Andreas Gottsmann (Hg.): Das kulturelle Leben. Akteure - Tendenzen - Ausprägungen. Teilband 1: Staat, Konfession und Identität. Teilband 2: Materielle und immaterielle Kultur (= Die Habsburgermonarchie 1848-1918; Bd. X), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2021, 2 Bde., XXX + 2074 S., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-7001-8661-8, EUR 198,00
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Der hier anzuzeigende Band setzt den Schlussakkord des Reihenwerks "Die Habsburgermonarchie 1848-1918", ein Unterfangen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, das seine Anfänge in den 1950er Jahren hatte. Der erste Band erschien 1973. Hinweise zu Motivation und Verlauf des Werks gibt es in Vorwort und Einleitung einzelner Bände. [1] Das Werk verdiente eine wissenschafts- und zeitgeschichtliche Studie, die - nicht zuletzt sprachlichen - Anforderungen wären wohl nicht gering.
Die Lektüre der das "Jahrhundertwerk" [2] beschließenden 2.074 Seiten, verteilt auf zwei Bände, Gesamtgewicht 4.074 Gramm, kann über weite Strecken eine belebende und gewinnbringende intellektuelle Erfahrung sein. So, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die Beiträge "Der Kaiser und die dynastische Kulturpolitik" (Werner Telesko) (25-76), über Bildung und Bildungsinstitutionen in den beiden Reichshälften (Peter Urbanitsch / Joachim von Puttkamer) (207-325), "Protestantismus als Träger und Vermittler der Kultur" (Karl W. Schwarz / Juliane Brandt) (437-526), "Die Konstruktion slowakischer Nationalkultur"(David Schriffl) (777-801), "Die südslawischen Literaturen (Reinhard Lauer) (1425-1442), die "Kultur des Alltagslebens in Ungarn" (Tamás Dobszay) (1517-1570) oder "Wohnkultur und Wohnungselend" (Ulrike Harmat) (1633-1700). Der angedeutete Reichtum an Erlesbarem ist kein Wunder. Es geht um Kultur in der Habsburgermonarchie vom "Frühling der Revolution" 1848/49 bis zum Ende derselben als Staat im Spätherbst 1918. Das Faszinosum, das von dieser Zeit auf dem Gebiet des Kulturellen ausgeht, ist ubiquitär. Da gibt es die andauernde Bewegtheit im Wahrnehmen der Artefakte, da ist das Bewusstsein, es seien seinerzeit Urquellen der Moderne generiert und verhandelt worden.
Die Anfänge dieses Aufbruchs in die Moderne sind nun nicht in den ersten zwei Jahrzehnten des behandelten Zeitraums, sondern seit den späten 1860er Jahren zu suchen. Kultur, was immer darunter zu verstehen ist, braucht ein Umfeld und eine materielle Basis. Die lange Friedensphase nach 1866, die politisch sanktionierte Liberalität auf dem Gebiet von Kunst und Wissenschaft im Staatsgrundgesetz von 1867, wirtschaftliche Prosperität seit den 1880er Jahren, ein gegenüber der Kultur aufgeschlossenes und diese förderndes Bürgertum sowie das Wachstum der Städte waren Bedingungen für eine kulturelle Blütephase, die ihresgleichen sucht. Das sehr spezifische des Habsburgerreichs - die genannten Umstände gab es in Variationen ebenfalls andernorts - wurde von John Boyer so beschrieben: "Just as the Empire was an amalgamation of many different small political and social worlds [...] so too was its cultural diversity spectacularly impressive." [3] Es war eine "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" (Ernst Bloch), eine Gemengelage von exquisiter Modernität und Tradition bzw. Altertümlichkeit. Zu letzterem zählte für manche 'modernen' Zeitgenossen die Wirkmacht von Dynastie, Adel und Religion(en). Eine saubere Trennung zwischen Proponent:innen von Moderne und Tradition entspricht aber nicht der historischen Realität, wie z.B. im Beitrag über die "Konfliktzonen der Geschlechter" (1607-1631) (Lisa Fischer) nachzuverfolgen ist.
Für eine Darstellung des 'kulturellen Lebens' der Habsburgermonarchie zwischen 1848 und 1918 müssen Umfeld und die materielle Basis ebenso wie die vielen kleinen bzw. manchmal nicht so kleinen, von John Boyer angesprochenen 'Welten' angemessen thematisiert werden. Die Untertitel der beiden Teilbände ("Staat, Konfession und Identität"; "Materielle und immaterielle Kultur"), die sieben thematischen Großabschnitte ("Die Habsburgermonarchie als Brennpunkt kultureller Kontraste"; "Schule zwischen Staat und Nation"; "Die Religionsgemeinschaften als Kulturträger und Kulturvermittler"; "Kultur als Instrument der Nationalpolitik"; "Ringstraßenkultur und Moderne"; "Alltagskultur"; "Wien - eine zentraleuropäische Kulturmetropole zur Jahrhundertwende") sowie das Inhaltsverzeichnis [4] müssen als Hinweis dafür genügen, dass dem in der Anlage Rechnung getragen wurde.
Kultur bzw. 'kulturelles Leben' sind, das wurde angedeutet, von den Bedingungen ihrer Ermöglichung geprägt. Vieles, was von Relevanz ist, wurde schon in anderen Bänden des Reihenwerks erörtert, insbesondere in Band IX. [5] Dies wird einleitend erwähnt (XV), ohne dass in der Folge mögliche, für die Leserschaft doch wohl sinnvolle Querverweise in entsprechender Dichte zu finden sind. Weiter ist ein deutlicher Fokus auf die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien festzustellen. In Maßen Budapest, dann Prag und vor allem andere Städte wie Brünn oder Lemberg, geschweige denn die agrarischen Regionen des Reichs stehen dahinter gerechtfertigter Weise weit zurück. Denn, wie wiederum John Boyer ausführte, war auf kulturellem Gebiet "the center [...] inevitably the capital city of Vienna." [6] "Wien um 1900" ist ein lebendiger, auch kommerziell verwerteter Mythos. Zeitgenössisch war die Stadt eine durch freie Zuwanderung aus dem 'Empire' rasant wachsende Millionenstadt, ökonomisch mächtig, Epizentrum eines dem kulturellen zugetanen Bürgertums, Mittelpunkt eines Herrschaftssystems, das die politischen und sozialen Friktionen in Stadt und Monarchie - noch - dämpfen und einzuhegen vermochte. [7]
Wolfram Siemann vermerkte in einer Rezension der Bände VIII und IX "die neue Frische und konzeptionelle Verdichtung", die mit den seit 2000 erschienenen Bänden einher ging (ohne den Wert der 'älteren' Bände negieren zu wollen). [8] Auch bei Band X handle es sich, so dessen Herausgeber Andreas Gottsmann, nicht um einen "Sammelband, sondern ein inhaltlich durchdachtes und durchkonzipiertes Handbuch der späten Habsburgermonarchie, dass sich dem ursprünglichen Konzept der Reihe verpflichtet sieht." Die dem Band zugrunde liegenden konzeptuellen Überlegungen haben gleichwohl wenig Eingang in Vorwort (XV-XVII) und Einleitung (1-24) gefunden. Zu erfahren ist, dass der zur Diskussion stehende Obertitel "Kultur und Zivilisation" (XV), früher wurde genannt "Kultur und Gesellschaft" (Bd. IX, 1/1, 1), zugunsten des "kulturellen Lebens" verworfen wurde, "um die Inhalte der Beiträge besser darzustellen" (XV). Dieses eher pragmatisch klingende Vorgehen mag darin begründet liegen, dass für das Sujet Kultur bzw. Kulturgeschichte kaum ein übergreifendes Konzept elaboriert werden kann. Wie vom Herausgeber angeführt machen aber Bandstruktur und Inhalt der Beiträge eine andere Kontinuität im Horizont des Gesamtwerks erkenntlich. Erstens war in vielen Bänden die ethnische, kulturelle, politische, religiöse und sprachliche Vielfalt der Monarchie für die Darstellung konstitutiv. Zweitens musste bei aller Diversität und Disparität gefragt werden, welche übergreifenden Phänomene von Bedeutung sind. Letztere werden im ersten Teilband erörtert, der Leitfaden ist die konstitutive Bedeutung von Dynastie, Schule und Bildung, Religion sowie Ethnie und Nationalität für kollektive Identitätsdiskurse und -bildungen. Die Beiträge des zweiten Teilbandes bilden in grosso modo heterogene, teils genrezentrierte Ausprägungen von Kultur und Alltagskulturen(en) ab.
Eine Würdigung der Beiträge setzt Fachwissen voraus, über das einzelne Wissenschaftler*innen kaum verfügen können. Es sei nur bemerkt, dass bei der Behandlung der römisch-katholischen Kirche als Kulturträger und Kulturvermittler die aufeinander folgenden zwei Beiträge eines Verfassers (Stefan Schima) trotz wohl gegenteiliger Intention unverbunden sind. Der erste stellt einen knappen Überblick zu Papsttum und Ultramontanismus dar (327-342). Es wird richtig angedeutet, praktizierter Ultramontanismus habe sein Movens vor Ort gehabt und sei eine Bewegung 'von unten' gewesen (327-329). Der zweite widmet sich den beiden Reichshälften im Spannungsfeld von Thron, Konfession und Gesellschaft (343-436). Es hätte gegolten, die genannte, wenngleich keineswegs neue Einsicht zum Ultramontanismus mit Leben zu füllen und so Reichweite, Erträge und Grenzen dieser durchaus fundamentalistischen Leitkultur zu skizzieren. Das geschieht dann de facto, der Bezug zum Ultramontanismus muss aber von der Leser:innenschaft selbst hergestellt werden, der Begriff taucht im längeren Beitrag nur viermal auf, und nicht an wichtiger Stelle. Das mag zu verschmerzen sein, doch hätte die Frage nach Ultramontanismus und Habsburgermonarchie gern flächendeckend systematisch verfolgt werden können. Der Beitrag "Das alltägliche Leben - gesellschaftliche Differenzierungen auf dem Weg in die Moderne" (1477-1515) (Manfred Prisching) ist dem Modernisierungsparadigma verpflichtet. Das ist im Prinzip gut, denn dieses kann, seines teleologischen Charakters entkleidet, für Strukturierung und Deutung von Wahrgenommenem außerordentlich hilfreich sein. Allerdings nur, wenn die Grundlage das konkret empirische ist. Leider ist das in diesem Fall nicht so, Bezüge auf das "alltägliche Leben" in der Habsburgermonarchie scheinen eher rar auf. Darüber hinaus scheint das empirische eher als Belegmaterial für die Stimmigkeit modernisierungstheoretischer Parameter zu dienen, wo es doch umgekehrt sein sollte.
Wolfram Siemann stellte in seiner Besprechung der Bände VIII und IX deutlich heraus, diese legten wie das Gesamtwerk einen anderen Zugang zur Geschichte Zentral- und Osteuropas dringlich nahe. Die bisher meines Ermessens eher zurückhaltende Rezeption des Werks mag aber nicht nur einem kolonial oder deutsch-borussisch verengten Blick geschuldet sein. Wolfram Siemann sprach - eher nebenbei - davon, dass "beim oberflächlichen Zugriff die Bände nicht leicht zu handhaben" seien. Das "nicht leicht zu handhaben" gilt leider gleichfalls bei gründlichem Zugriff.
Nach Abschluss beläuft sich die Gesamtseitenzahl, verteilt auf 21 Bände, auf CXCVIII und 17.160 Seiten. Bei Nutzung mehrerer Bände sind rein physisch (Gewicht; Platzbedarf) rasch Grenzen erreicht. Eine quasi lexikalische Nutzung würde eine engere Verzahnung der Bände untereinander per Verweissystem voraussetzen. Das gab es nicht und wird es kaum geben. Sehr zu empfehlen wäre ein open-access Zugang für wirklich alle Bände. Dieser ist, Stand jetzt, für Band VIII/1 ("Politische Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft: Vereine, Parteien und Interessenverbände") und den gesamten Band IX ("Soziale Strukturen") gegeben. Das ist schon gut, findet sich aber meines Wissens nur an versteckter Stelle [9], einen link dorthin gibt es auf Bibliotheksseiten dagegen bislang nicht. Um die Nutzung zu erleichtern wäre weiterhin ein Zusatzband wünschenswert, der die Inhaltsverzeichnisse und Register aller Bände vereint. Freilich steht Menschen mit Freude am gedruckten Buch, Menschen mit Entdeckermut, Zeit und Ausdauer jetzt und in Zukunft nichts im Wege, die "Hardcopy"-Bände der "Habsburgermonarchie 1848-1918" für wunderbare Entdeckungsreisen zu nutzen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Adam Wandruszka: Planung und Verwirklichung, in: Alois Brusatti (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Band I. Die wirtschaftliche Entwicklung, Wien 1973, I-XIX; Helmut Rumpler, Vorwort, in: ders. (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Band XI/1/1, Wien 2016, XIII-XVI.
[2] Vgl. Matthias Stickler: "Die Habsburgermonarchie 1848-1918" - Ein Jahrhundertwerk auf der Zielgeraden, in: HZ 295 (2012), 690-719.
[3] John Boyer: Austria 1867-1955, Oxford 2021, 413.
[4] Das Inhaltsverzeichnis ist abrufbar unter https://austriaca.at/8661-8
[5] Vgl. Helmut Rumpler / Peter Urbanitsch (Hgg.): Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Band IX: Soziale Strukturen: Von der feudal-agragrischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft, Wien 2010.
[6] Boyer, Austria, 413.
[7] Vgl. Jana Osterkamp: Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen 2020.
[8] Vgl. Wolfram Siemann: "Habsburg, Deutschland und Mitteleuropa im 'langen neunzehnten Jahrhundert'", http://www.sehepunkte.de/2011/05/11838.html [Zugriff 15.03.2024]
[9] https://verlag.oeaw.ac.at/reihe/die-habsburgermonarchie-1848-1918/4
[Zugriff: 29.3.2024]
Thomas Schulte-Umberg