Marina Benedetti (a cura di): Eretiche ed eretici medievali. La «disobbedienza» religiosa nei secoli XII-XV (= Frecce), Roma: Carocci editore 2023, 416 S., ISBN 978-88-290-1994-6, EUR 39,00
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Die Historikerin Marina Benedetti hat eine neue Abhandlung über Häretikerinnen und Häretiker des Hoch- und Spätmittelalters herausgegeben. Das Buch gliedert sich in vier aus jeweils vier Kapiteln bestehende Teile, die sich auf besondere Schwerpunkte des hier vertretenen Forschungsansatzes beziehen. Im ersten Teil befassen sich die Beitragenden mit klassischen Fallbeispielen unter dem Gesichtspunkt der pluralen Identität ("Identità plurali"): Franco Mores mit Arnold von Brescia, Giovanni Grado Merlo mit Valdes von Lyon, Daniel Toti mit den Katharern in Italien und Marina Benedetti mit Guglielma von Mailand. Im zweiten Teil rücken die Frauen ins Zentrum, deren angebliches Schweigen eher die Folge eines Schweigens über sie ist ("Il silenzio delle donne, il silenzio sulle donne"): Anna Benvenuti gibt einen Überblick über Beginen und andere individuelle und kollektive Erfahrungen religiöser Frauen; Marina Benedetti betrachtet Predigttätigkeit und Apostelnachfolge mit Berücksichtigung der Position und Rolle der Frauen; Adriana Valerio konzentriert sich auf Marguerite Porete und auf deren "Spiegel der einfachen Seelen"; Marina Montesano kontextualisiert das Leben von Jeanne D'Arc und fasst deren moderne Rezeption zusammen. Die Fallbeispiele des dritten Teils werden aus der Perspektive der Häresie als Kulturbewegung ("Eresia come 'moto di cultura'") dargestellt: die Katharer in Languedoc von Anne Brenon; John Wyclif und die Lollarden von Elizabeth Solopova; die Hussiten von František Šmahel; die Waldenser aus den Alpen im 15. und 16. Jahrhundert von Marina Benedetti. Etwas obskur ist der Bezug im Titel des vierten Teils: Deutungen und Bilder auf dem Scheiterhaufen ("Interpretazioni e immagini al rogo"). Für die heterogenen Beiträge könnte man einen gemeinsamen Nenner in der Kontroversität der Rezeption der dargestellten mittelalterlichen Häretiker finden: Rosa Maria Parrinello problematisiert die Deutungen Bogumils, des angeblichen Begründers der dualistischen Bewegung der Bogomilen innerhalb der ostchristlichen Kirche (10. Jahrhundert); Andrea Nicolotti betrachtet die Templerprozesse (1307-1312) und die spätere kontroverse Rezeption des Tempelordens unter besonderer Berücksichtigung der erfundenen Tradition des Turiner Grabtuches; Franco Mores beschäftigt sich mit den wichtigsten Denkern des 1907 als "Sammelbecken aller Häresien" verurteilten Modernismus; Pavel Helan kontextualisiert die 1913 von Benito Mussolini veröffentlichte Monografie über Jan Hus.
Alle Beiträge sind durchschnittlich gute handbuchmäßige Zusammenfassungen, meistens von vorhergehenden Untersuchungen der jeweiligen Autorinnen und Autoren: ohne Fußnoten, aber mit einer abschließenden ausgewählten und kommentierten Bibliographie. Im Folgenden werden nicht einzelne Beiträge besprochen, sondern es wird auf einige Leitideen des Bandes eingegangen. Solche Ideen, die besonders relevant für die langwierigen Debatten in der Häresieforschung sind, stellt die Herausgeberin in der anregenden Einleitung vor, die allerdings - der Formulierung ihres Titels entsprechend: "Frammenti di un discorso ereticale. Per un'introduzione" - etwas an Kohärenz vermissen lässt.
Mit dem Begriff "frammenti" beruft sich Benedetti auf die Methodik der bahnbrechenden Untersuchung von Arsenio Frugoni über Arnold von Brescia aus dem Jahr 1954. [1] Anhand einer kontextualisierenden Analyse der einzelnen Quellen über Arnold konnte Frugoni die übliche kombinatorische Methode vermeiden. Durch diese Kombinatorik haben moderne Gelehrte und Forschende kohärente Konstrukte der mittelalterlichen Häresien geschaffen, indem sie Informationen aus verschiedenen Quellen zusammengestellt haben, die aus unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Kontexten stammen. Obwohl sich die analytische und kontextualisierende Methodik heute prinzipiell recht gut nachvollziehen lässt, ist deren Umsetzung nicht banal, wenn man nicht gleichzeitig sehr sorgfältig auf die üblicherweise verwendeten Forschungskategorien und die damit verbundenen Meistererzählungen achtet bzw. eventuell darauf verzichtet. Diese Schwierigkeit kann man immer wieder auch in einzelnen Beiträgen des Sammelbandes feststellen. Zum Beispiel stützt sich Anne Brenons Aussage, dass die angeblichen deutschen katharischen Kirchen vermutlich zwischen Ende des 12. und Anfang des 13. Jahrhunderts im Niedergang begriffen scheinen - "le chiese germaniche sembrano in declino" (226) -, auf abstrakte, nicht nachprüfbare Grundannahmen über die Katharer, die wiederum nur ausgehend von späteren und in anderen Kontexten entstandenen Quellen bearbeitet wurden. Gerade gegen diese traditionellen Kategorien und Narrative sowie die darauf aufbauenden Grundannahmen richtet sich eine weitere Leitidee des Sammelbandes: die der "pluralen Identität" der Häretikerinnen und Häretiker. Schon vor über dreißig Jahren hat Giovanni Grado Merlo auf die Pluralität der Waldenser hingewiesen. [2] Diese Darstellung war ausschlaggebend für die Gesamtdeutung der mittelalterlichen Häresien, weil deren Pluralisierung einen wichtigen Schritt in Richtung der Auflösung der herkömmlichen Kategorien bildete. In Übereinstimmung mit Merlos Positionen betont Marina Benedetti, dass Häretikerinnen und Häretiker eigentlich Christinnen und Christen auf der Suche nach einem apostolischen Leben gewesen seien, die aber - auch aufgrund ihrer Entscheidungen - als "ungehorsam" gegenüber den kirchlichen Institutionen verurteilt worden seien. Die häufige Zweigestaltigkeit zwischen Heiligkeit und Häresie ("dimorfismo tra santità e eresia", 22) zeigt laut Benedetti auch, dass die Einordnung dieser religiösen Erfahrungen eigentlich ein offener und komplexer Prozess war, der in jeweils unterschiedliche kontextuelle Machtverhältnisse eingebettet war. Diese sozial-konstruktivistische Perspektive wird aber theoretisch und methodisch nicht konsequent ausgebaut und umgesetzt. Deshalb werden in den Beiträgen immer wieder alte Kategorien verwendet, wie zum Beispiel die ambivalente Idee der Häresie als Kulturbewegung ("moto di coltura"), die der Historiker Gioacchino Volpe am Anfang des 20. Jahrhunderts erarbeitete. [3] Zwar lassen sich dadurch wichtige Aspekte der jüngsten Forschung erfassen: einerseits die damaligen Prozesse der Wissensvermittlung bzw. -verbreitung, an denen auch Individuen und Gruppen teilnahmen, die wegen des Häresievorwurfs verurteilt wurden; andererseits die entscheidenden abenteuerlichen Überlieferungsgeschichten der Quellen ("avventure documentarie", 16) [4], deren gelehrte Gestaltung und Bereitstellung für das historische Wissen seit dem konfessionellen Zeitalter unser Geschichtsbild der Häresien stark prägt. Allerdings schafft man durch die Verwendung der Kategorie "moto di cultura" unterschwellig wiederum kohärente Identitäten - die Katharer in Languedoc, die Lollarden, die Hussiten -, die nicht der Komplexität von Texten und Kontexten gerecht werden, die die Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen selbst darstellen. Schließlich lässt sich eine ähnliche Ambivalenz auch in der wichtigsten Leitidee des Sammelbandes konstatieren: die Anerkennung der historischen Bedeutung der Häretikerinnen. Zwar erfasst die Betonung der Rolle der Frauen einen grundlegenden sozialen Faktor in vielen dieser Geschichten von Häretikerinnen und Häretikern: das Streben nach Teilhabe von Akteuren, die von den Institutionen eher marginalisiert worden sind. Benedettis lobenswerter programmatischer Versuch, die unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen zu begreifen - siehe den Begriff der "donne on the road" (153) -, scheint jedoch paradoxerweise dem traditionellen homo hereticus die mulieres hereticae als neue abstrakte, wenngleich plurale Kategorie zur Seite zu stellen. [5] Implizit reduziert diese Kategorie damit wiederum die Komplexität, die Benedettis Untersuchungen selbst zeigen.
Letztlich hinterlässt die Lektüre des Bandes einen zwiespältigen Eindruck: Das Handbuch, das sich auf die Arbeit kompetenter Häresieforscherinnen und -forscher stützt, kann dennoch nicht die notwendigen Schlussfolgerungen einiger seiner Leitideen und der komplexen Untersuchungen ziehen: die Auflösung der traditionellen Kategorien der Häresieforschung und letztendlich auch des Disziplinbereichs selbst. Den möglichen Weg zur Weiterentwicklung der Forschung zeigen konsequentere konstruktivistische Perspektiven, die schon seit langem und in den letzten Jahren immer häufiger übernommen werden, um der Komplexität der institutionellen Prozesse der Exklusion und der Inklusion in der Vormoderne gerecht zu werden. [6] Nur im Zusammenhang mit solchen breiteren Prozessen kommt der Verdichtung der religiösen Feindbilder der Häresien und deren oft instrumentalisierter Verwendung gegen Frauen und Männer in vielen Kontexten der West- und der Ostchristenheit eine zentrale historische Bedeutung zu.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die neue Edition: Arsenio Frugoni: Arnaldo da Brescia nelle fonti del secolo XII, ed. by Francesco Mores, Bologna 2021.
[2] Giovanni Grado Merlo: Valdesi e valdismi medievali, 2 Bde., Turin 1984-1991.
[3] Vgl. Gioacchino Volpe: Movimenti religiosi e sette ereticali nella società medievale italiana. Secoli XI-XIV, Firenze 1971, 54-55.
[4] Vgl. dazu Marina Benedetti: Medioevo inquisitoriale. Manoscritti, protagonisti, paradossi, Roma 2021.
[5] Vgl. Marina Benedetti: Condannate al silenzio. Le eretiche medievali, Milano / Udine 2017; Adriana Valerio: Eretiche. Donne che riflettono, osano, resistono, Bologna 2022.
[6] Vgl. zum Beispiel: Franck Mercier / Isabelle Rosé (éds.): Aux marges de l'hérésie. Inventions, formes et usages polémiques de l'accusation d'hérésie au Moyen Âge, Rennes 2017; Delfi I. Nieto-Isabel / Laura Miquel Milian (eds.): Living on the Edge. Transgression, Exclusion, and Persecution in the Middle Ages (=Studies in Medieval and Early Modern Culture; 83), Kalamazoo 2022.
Eugenio Riversi