Joachim Schlör: Jüdische Migration und Mobilität. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (= Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne; Bd. 31), Berlin: Neofelis Verlag 2024, 355 S., ISBN 978-3-95808-434-6, EUR 29,00
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Historiker und Sozialwissenschaftler haben Mobilität und Migration lange als getrennte Phänomene analysiert. Migration beschreibt unterschiedliche Wanderungsprozesse, etwa Vertreibung und Flucht, Arbeitswanderungen, aber auch saisonale Wanderungen. Unter Mobilität fallen dagegen kurzfristige Ortsveränderungen, zum Beispiel mit dem Fahrrad, Auto, Bus und der U-Bahn. Der Mobilität lassen sich auch touristische Reisen und Pilgerfahrten zuordnen. Große städtische Bahnhöfe, Häfen und Flughäfen illustrieren, dass Migration und Mobilität miteinander verzahnt sind. Erstaunlich wenig ist über die alltäglichen Reiseerfahrungen von Migranten und Flüchtlingen bekannt, über Zwischenräume und Orte des Übergangs wie Umsteigebahnhöfe, Grenzkontrollstationen, die unteren Decks der großen Ozeanschiffe, wo die meisten einfachen Migranten untergebracht waren, oder über die Geschichte illegaler Grenzübertritte mithilfe von Schleusern. Für die historische Migrationsforschung sind verschiedene Formen von Mobilität allenfalls ein Randthema, während Studien über die Geschichte von Mobilität nur selten auf Migration eingehen. Die Schnittmenge zwischen Mobilität und Migration ist erst in den letzten Jahren in den Fokus mehrerer Studien gerückt .
Der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör hat sich lange für die räumliche Dimension von Migration und Mobilität interessiert, insbesondere im Feld der jüdischen Studien. Der vorliegende Band versammelt 14 Essays zum Thema jüdische Migration. Im Zentrum stehen kulturwissenschaftliche Betrachtungen der Erfahrungen jüdischer Migranten und Flüchtlinge - Frauen, Männer und Kinder. Die Beiträge sind den Unterthemen "Siedlung, Heimat, Identität", "Migration, Mobilität, Transnationalismus", "Maritime Kultur, Schiffe, Hafenstädte", "Dinge und ihre Bedeutung" sowie "Archive und Erinnerungsorte" zugeordnet.
Die Schiffsreise symbolisiert Zwischenräume und Übergänge besonders eindrücklich. Auf riesigen Ozeanschiffen wie der Titanic begegneten sich Menschen unterschiedlicher Herkunft, Migranten, Geschäftsreisende, Künstler und Touristen, wie es etwa Stefan Zweig in der im Exil verfassten "Schachnovelle" beschreibt. Die Reiseerfahrungen von Kindern und Erwachsenen sind und waren unterschiedlich. Schlör präsentiert einige bewegende Beispiele. Der elfjährige Fritz Freudenheim zeichnete 1938 eine farbige Karte mit Schiffen und der Reiseroute von Berlin über Hamburg, Belgien, Frankreich, Casablanca, Rio de Janeiro nach Montevideo mit dem optimistischen Titel "Von der alten Heimat zu der neuen Heimat!". Es liegt nahe, dass die Eltern die Reise mit zwiespältigen Gefühlen antraten. Die Familie entkam der Nazi-Verfolgung, doch die Zukunft in einem unbekannten Land war unsicher. Für andere Kinder war die Emigration eine einschneidende Verlusterfahrung wie es etwa der sogenannte Kindertransport illustriert. Nach dem November-Pogrom 1938 gewährte Großbritannien 10.000 jüdischen Kindern aus Deutschland und Österreich vorläufiges Asyl. Ernest Growald erinnert sich 1991 an den Abschied auf dem Bahnsteig des Anhalter Bahnhofs in Berlin im Frühjahr 1939. Er ahnte bereits, dass er seine Mutter nicht wiedersehen würde.
Ein exzellentes Beispiel für einen weitgehend vergessenen Zwischenraum ist der "Auswandererbahnhof" in Ruhleben im Westen von Berlin. Die Geschichte von Ruhleben zu rekonstruieren war eine Herausforderung, denn Orte der Mobilität werden erst dann zum Thema für die Presse und die Behörden, wenn komplexe Abläufe gestört werden, etwa durch Unfälle. Im Essay "Transit Berlin" präsentiert Schlör Materialien zu Ruhleben, die teilweise das Ergebnis langwieriger Recherchearbeiten in Berliner Zeitungen und Archiven sind. Bis 2012 stand eine halb verfallene Bahnhofsbarracke zwischen Gleisen am Rande eines Industriegebiets. Der isolierte Komplex wurde 1891 von der preußischen Eisenbahnverwaltung errichtet, weil die Berliner Bahnhöfe den Andrang von Durchwanderern aus Osteuropa auf dem Weg nach Bremen, Hamburg und Rotterdam nicht mehr bewältigen konnten. Nach 1891 reisten viele Juden, Polen, Litauer, Ukrainer und andere russische Untertanen in versiegelten Auswandererzügen über Ruhleben, wo sie sich einer zwangsweisen Desinfektion unterziehen mussten. Für mehr als zwei Jahrzehnte fungierte Ruhleben als ein Vorraum für die Einwandererstation auf Ellis Island. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor der Auswandererbahnhof seine Funktion, weil die Vereinigten Staaten die Tore für Osteuropäer schlossen. Im August 2012 wurde die Bahnhofsbarracke abgerissen, bevor dort eine Gedenkstätte entstehen konnte.
Ein Protagonist in zwei Essays ist der Anwalt und Zionist Sammy Gronemann. Schlör hat Gronemanns Memoiren und den wundervollen Roman "Tohuwabohu" von 1920 einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Gronemann war ein genauer Beobachter jüdischen Lebens "in between", der stereotype Wahrnehmungen durchschaute und anprangerte. In seinen Memoiren beschreibt er, dass Ost und West in Berlin vor 1933 "weniger geographische als vielmehr zeitliche Begriffe" waren. [1] Damit bezog sich Gronemann auf die spezifische Berliner Topografie von sozialer Mobilität. Die meisten Berliner Juden beziehungsweise ihre Eltern und Großeltern zogen wie viele ihrer christlichen Nachbarn aus den östlichen Provinzen Schlesien, Posen und Westpreußen nach Berlin. Viele fanden zuerst Unterkunft in den östlichen Arbeiterquartieren und der Gegend um den Alexanderplatz. Der Prozess der Verbürgerlichung war mit dem Umzug in die westlichen Vorstädte Charlottenburg und Wilmersdorf verbunden und mit einer zunehmend negativen Wahrnehmung von neu eintreffenden Migranten aus "Hinterberlin". Im Roman "Tohuwabohu" brachte Gronemann seine Kritik an der Assimilation auf den Punkt. In der Verwechslungskomödie trifft eine Familie konvertierter Hyperpatrioten auf Mitglieder einer stereotyp porträtierten jüdischen Familie aus dem "Osten". Am Ende stellt sich heraus, dass sie zur gleichen Familie gehören. Die Spannungen zwischen Etablierten und Außenseitern, die zur gleichen sozialen Gruppe gehören, sind keinesfalls eine spezifisch jüdische Erfahrung, wie der deutsch-jüdische Philosoph und Soziologe Norbert Elias in einer Studie über Abgrenzungsprozesse unter Migranten in den 1960er Jahren zeigte. [2]
Die kurzen und gut geschriebenen Essays werfen Kernfragen der Migrationsforschung auf und eignen sich hervorragend als Einstieg in die neuere jüdische Geschichte. Die Essays reflektieren das Potential einen genaueren Blick auf die kulturelle und soziale Dimension von verschiedenen Mobilitätsformen zu werfen.
Anmerkungen:
[1] Sammy Gronemann: Erinnerungen. Hg. Von Joachim Schloer, Berlin 2002 [1947], 256.
[2] Norbert Elias / John L. Scotson: The Established and the Outsiders: A Sociological Enquiry into Community Problems, London 1964.
Tobias Brinkmann