Sarah Panter / Johannes Paulmann / Thomas Weller (Hgg.): Mobilität und Differenzierung. Zur Konstruktion von Unterschieden und Zugehörigkeiten in der europäischen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Beiheft 139), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 288 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30216-3, EUR 75,00
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Im Zentrum des vorliegenden Bandes aus dem Kontext des Mainzer Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte steht in historischer Perspektive die physische Mobilität von Individuen und Gruppen, verbunden mit der Herstellung von Zugehörigkeit und Differenz. Zeitlich liegt dem Buch ein breites Neuzeitverständnis zugrunde - seine sechs historischen Fallstudien reichen vom späten 15. bis zum 20. Jahrhundert und sind chronologisch angeordnet. Ihnen vorgeschaltet sind drei methodisch-konzeptionelle Kapitel sowie eine Einleitung, die den Ansatz des Bandes erläutert und sich streckenweise ein wenig wie ein Forschungsantrag liest: Es wird dafür plädiert, die "Überlagerung von verschiedenen Differenzkategorien" (9) im Zusammenhang mit physisch-horizontaler Mobilität zu untersuchen, jeweils unter Berücksichtigung der unterschiedlichen lokalen und zeitlichen Kontexte. Dem liegt erstens die Überzeugung zugrunde, dass ein tendenziell räumlich-geographisch dominiertes Verständnis von Migration bzw. Mobilität einer stärkeren Einbeziehung sozialer Dimensionen weichen sollte - auch die Kategorie Raum wird entsprechend konsequent sozial gedacht. Zweitens geht es um (Mehrfach-) Zugehörigkeiten und Abgrenzungen als Zuschreibungskategorien sowie um Praktiken von Kategorisierung (und Kategorieüberschreitungen) durch mobile Menschen - dahinter steht das Konzept der "Humandifferenzierung" (19), das erkenntnisleitend für einen Sonderforschungsbereich der Mainzer Johannes Gutenberg-Universität ist. Drittens schließlich interessieren die Herausgeber*innen sich für Handlungsspielräume aus der Marginalität heraus (22), auch im Hinblick auf politisch-gesellschaftliche Inklusion und Partizipation.
Dieser Ansatz bündelt manches, was in neueren Arbeiten zur historischen Migrationsforschung durchaus bereits eine Rolle spielt, jedoch bislang nicht immer unbedingt auf einen konzeptionellen Punkt gebracht wurde. Im ersten der drei methodenorientierten Beiträge, die der Einleitung folgen, diskutiert Anne Friedrichs zunächst materialreich eine an Mobilitäten orientierte europäische Gesellschaftsgeschichte im Zeitalter der Nationalstaaten im Spannungsfeld migrantischer Selbstinszenierungen und bürokratischer Praktiken des Unterscheidens: Der analytische Blick auf Mehrfachzugehörigkeiten trage dazu bei, nationalstaatlicher Containerbildung zu entgehen. Aus soziologischer Perspektive wird sodann horizontale Mobilität innerhalb eines breiten Mobilitätsverständnisses verknüpft mit dem akteursorientierten Konzept der "Humandifferenzierung" (Stefan Hirschauer), bevor von der Ethnologin Regina Römhild das aktuelle EU-Europa als "postmigrantischer" Raum diskutiert wird - in der sehr nachvollziehbaren Absicht, zur Überwindung scheinbar klarer Dichotomien zwischen Zugewanderten und Einheimischen beizutragen.
Vier der folgenden sechs empirischen Fallstudien des Bandes nehmen die Vormoderne in den Blick: So analysiert der Beitrag von Thomas Weller für die Zeit des niederländischen Unabhängigkeitskriegs im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert das flexible, oft dissimulierende Changieren mitteleuropäischer Kaufleute in Spanien: zwischen unterschiedlichen, manchmal einander überlagernden landsmannschaftlich-territorialen und religiös-konfessionellen Zugehörigkeiten, die ihrerseits auf "wechselseitigen Aushandlungsprozessen" basierten (138). Viele Kaufleute zogen offenbar eine mehr oder weniger konsequente Verstellung dem offiziellen Übertritt zum Katholizismus vor, denn Konvertiten waren etwa vom Indienhandel ausgeschlossen. Demgegenüber zeigt der Beitrag von Denise Klein zur Stadtgeschichte Istanbuls in einem zeitlichen Längsschnitt vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, wie obrigkeitlichen Lenkungsversuchen von Zuwanderung eine gelebte, nach ethnisch-geographischen Gruppen organisierte Vielfalt gegenüberstand, die gleichwohl seitens eingesessener Eliten als Ordnungsstörung wahrgenommen werden konnte. Raingard Eßer thematisiert sodann konfessionelle Aushandlungspraktiken niederländischer Migrant*innen im englischen Norwich u.a. anhand ihrer Testamente; mit zeitlichem Abstand zum Migrationsvorgang entwickelten sich demnach unter Angehörigen von Exilgemeinden zunehmend Formen einer "situativen Konfessionalität" (nach B. Stollberg-Rilinger; 188). Im Beitrag von Marian Füssel kommen Kategorien von Vergleich und Unterscheidung in religiös-konfessioneller, ethnischer, (proto-)nationaler, ständischer und Geschlechterperspektive anhand eines breiten Quellenspektrums aus dem militärischen Kontext des Siebenjährigen Krieges zur Sprache.
Während in den Beiträgen zur Vormoderne religiös-konfessionelle Differenz(ierungs)kriterien eine wichtige Rolle spielen, gilt dies weniger für die beiden letzten Kapitel zum 19. und 20. Jahrhundert: Sarah Panter behandelt ausgewählte deutschsprachige Revolutionsflüchtlinge und ihre familiären Netzwerke der Jahrzehnte nach 1848 in einer globalen Mobilitätsperspektive (unter Einbeziehung der USA, Lateinamerikas und Australiens) und stellt deren unterschiedliche, nicht allein territorial definierbare Zugehörigkeiten heraus. Der Beitrag von Till Van Rahden schließlich geht der Geschichte von "Mehrheit" und "Minderheit" nach, einem Begriffspaar, das seit der Frühen Neuzeit oft auf eine moralische Über- bzw. Unterlegenheit verwies und in der Zwischenkriegszeit eine besondere Konjunktur erlebte. Bis heute drücken sich darin nicht so sehr numerische Verhältnisse als vielmehr Machtdiskurse und Narrative politisch-kultureller Verschiedenheit aus.
Der Band vereint einen bunten Strauß an Themen. Im Ergebnis wirken die Beiträge gleichwohl weniger heterogen, als man zunächst hätte vermuten können, denn die meisten Autor*innen haben die eingangs skizzierten konzeptionellen Prämissen sehr ernst genommen oder sich zumindest auf das erkenntnisleitende Spannungsfeld zwischen physischer Mobilität und Differenzierung eingelassen. Mehrere Beiträge sind explizit zurückhaltend dabei, die behandelten Phänomene in größere Narrative von Beschleunigung und Mobilitätszuwachs einzuordnen; auf nachvollziehbare Weise wird für eine Berücksichtigung konkreter Situationen und Akteursbezüge plädiert. Somit verstecken sich hinter einem eher abstrakten Titel sehr aspekt- und materialreiche Zugriffe auf das Problem, wie Individuen und Kollektive über Zugehörigkeiten entscheiden bzw. diese kreativ aushandeln. Vielleicht hätte sich gleichwohl ein knapper Schlusskommentar angeboten, um Ergebnisse und Einzelbefunde zu bündeln und von ihnen aus zum Weiterdenken anzuregen.
Alexander Schunka