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Jan Ruhkopf: Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949-1961, Göttingen: Wallstein 2023, 480 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-5499-9, EUR 48,00
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Rezension von:
Felix Lieb
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
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Felix Lieb: Rezension von: Jan Ruhkopf: Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949-1961, Göttingen: Wallstein 2023, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 6 [15.06.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/06/38351.html


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Jan Ruhkopf: Institutionalisierte Unschärfe

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Das Bundesvertriebenenministerium war in mehrfacher Hinsicht eine besondere Behörde: Weder hatte es einen behördlichen Vorläufer, noch besitzt es einen Nachfolger. Außerdem fehlte ihm, was mit einem Ministerium und einer Verwaltung gemeinhin assoziiert wird: Ein bis in die Fläche reichendes Geflecht untergeordneter Exekutivinstanzen. Die Umsetzung der materiellen Aspekte der Vertriebenenpolitik war anderen Ministerien vorbehalten. Dem Vertriebenenministerium blieb vor allem soft power, um sein Ziel zu erreichen, die Sicht der Bundesregierung auf Flucht und Vertreibung in der Öffentlichkeit zu verbreiten. So macht das Vertriebenenministerium in Ruhkopfs Studie oftmals mehr den Eindruck einer vorrangig symbolisch und koordinativ, aber deswegen nicht minder relevant handelnden regierungsamtlichen PR-Agentur, aber weniger den einer klassischen Behörde. Gerade dieser eher untypische Blick macht das Buch lesenswert und erkenntnisreich, schließlich ist die Beziehung zwischen Ministerien und Öffentlichkeit eine Dimension von Verwaltungshandeln, die in behördenhistorischen Untersuchungen bisher zum Teil etwas kurz gekommen ist. [1]

Ruhkopfs Studie gliedert sich in drei Großkapitel. Dabei steht zunächst die Öffentlichkeits- und Medienarbeit des Ministeriums - seine "Interventionen" (61) - im Vordergrund. Ruhkopf schildert insbesondere die rege Publikationstätigkeit des Ministeriums und wie diese dazu beitrug, spezifische Deutungen der Vertriebenenproblematik in der Öffentlichkeit zu platzieren. Mit dem Übergang vom Diskurs über Vertreibung hin zu einer Politik für alle Kriegsgeschädigten vergrößerte das Ministerium zwar einerseits seinen Zuständigkeitsbereich quasi selbst, denn darunter fielen beispielsweise auch Kriegsheimkehrer und Kriegssachgeschädigte. Dieses Deutungsmuster half außerdem mit, ein synthetischeres Verständnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft und damit die Eingliederung der Vertriebenen zu fördern. Andererseits reproduzierte dies den in der Nachkriegszeit gängigen deutschen Viktimisierungsdiskurs und rahmte die gesamte deutsche Gesellschaft als kollektive Opfergemeinschaft, was den Blick auf die Besatzungs- und Vernichtungspolitik des 'Dritten Reiches' als Ursache für diese Kriegsfolgen verunklarte oder gar verunmöglichte.

Das mittlere Kapitel ist der Forschungs- und Wissenschaftspolitik gewidmet. Besonders instruktiv und methodisch anregend sind in diesem Abschnitt die Ausführungen zu den im Ministerium erstellten Broschüren, bei denen Ruhkopf zeigen kann, wie die Gestaltung von Schaubildern und Diagrammen gezielt genutzt wurde, um den Positionen der Bundesregierung Legitimität und (vermeintlich) wissenschaftlich gestützte Glaubwürdigkeit zu verleihen. Diesen Aspekt einer Visual History von Vertriebenenverwaltung noch etwas zu stärken, wäre durchaus lohnenswert gewesen. In diesem Kapitel werden außerdem ideelle und wissenschaftliche Kontinuitäten in die Zeit des Nationalsozialismus und der Weimarer Republik am deutlichsten thematisiert, insbesondere in Hinblick auf die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, mit denen das Ministerium kooperierte, und deren früherer Beteiligung an bevölkerungs- und raumordnungspolitischen Konzepten.

Abschließend nimmt der Autor die internationalen Beziehungen des Ministeriums in den Blick, über die bei den westlichen Verbündeten ein Bewusstsein für die Vertriebenenproblematik erzeugt werden sollte und um Unterstützung der Bundesrepublik im Kalten Krieg geworben wurde. Anhand des zuständigen Abteilungsleiters Werner Middelmann, dessen Privatnachlass Ruhkopf auswerten konnte, lässt sich nachvollziehen, wie dicht insbesondere das Netzwerk zu politischen, kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen in den USA war. Durch regelmäßige Vortragsreisen und das Aktivieren bereits geknüpfter Kontakte gelang es dem Ministerium, das Deutungsmuster eines vor allem durch die kommunistische Bedrohung in Osteuropa ausgelösten Vertreibungsproblems zu etablieren und so die virulente antikommunistische Grundstimmung zu nutzen, um die eigenen Ziele in der Vertriebenenpolitik mit der Westbindung der Bundesregierung zu verbinden.

All diese Aktivitäten spielten sich zu großen Teilen jenseits der klassischen Handlungsfelder einer Ministerialbürokratie ab. Das Bundesvertriebenenministerium hob sich von anderen Ministerien ab, weil es nicht dafür zuständig war, "den auf der lokalen und regionalen Ebene stattfindenden, konkreten Integrationsprozess [...] zentral zu steuern", sondern das "Integrationskonzept der 'Eingliederung' [...] als politisches und wissenschaftliches Paradigma" (398) zu definieren und zu etablieren. Gerade dieser Blick auf die eher informellen Tätigkeitsbereiche einer Behörde macht Ruhkopfs Studie so erkenntnisreich. Die "Mission" des Ministeriums war, im Sinne eines "Politischen Verwaltens", eine "politische" und keine "administrative". (398) Inhaltlich lief diese auf den zunächst paradox anmutenden Versuch hinaus, Ansprüche auf die verlorenen Ostgebiete nicht offiziell aufzugeben, gleichzeitig aber jeden Anschein revisionistischer Bestrebungen zu vermeiden. Die sogenannte "Eingliederung" sollte - in sorgfältiger Abgrenzung von einer "Integration" oder "Anpassung" - das wechselseitige Zusammenwachsen von Vertriebenen und Aufnahmegesellschaft durch die vollständige Gleichstellung der Vertriebenen befördern und gleichzeitig deren regionale Identitäten erhalten. Nur eine gelungene Eingliederung stabilisiere die Bundesrepublik als Frontstaat im Kalten Krieg und schaffe damit langfristig die Voraussetzungen für eine Rückkehr in die alte Heimat. Besonders gut gelingt es Ruhkopf diesbezüglich zu zeigen, dass im Verfolgen dieses Eingliederungs-Konzeptes die Vertriebenenverbände weniger als Partner betrachtet wurden, sondern eher als potenzielle Gefahr. Das Ministerium befürchtete, dass zu revisionistische Bestrebungen der Verbände im westlichen Ausland Zweifel an der Westorientierung der Bundesregierung säen könnten.

Den zentralen Schwachpunkt des Buchs hat nicht vorrangig der Autor zu verantworten; er ist dem Zuschnitt des Gesamtprojekts geschuldet: Das verantwortliche Personal im Vertriebenenministerium bleibt eher blass. Insbesondere über die Werdegänge der Beamtinnen und Beamten bis 1945 und mögliche Belastungen aus der Zeit des 'Dritten Reiches' erfährt man nur Ausschnitthaftes. Dass Jan Ruhkopf dazu keine systematischen Ergebnisse vorstellt, liegt daran, dass die "Kollektivbiografie der Ministerialbürokratie" sowie die "Organisations- und Personalgeschichte des Ministeriums" im Rahmen einer separaten Studie Mathias Beers untersucht wird, welche jedoch noch nicht erschienen ist. [2] Bei der Analyse des formalen Belastungsgrades durch NSDAP-Mitgliedschaften im gehobenen und höheren Dienst beispielsweise bezieht sich Ruhkopf lediglich auf eine zeitgenössisch im Ministerialapparat selbst vorgenommene Erhebung, nimmt aber keine eigene Auswertung vor. Dass solche Zahlen nicht unbedingt verlässlich sind, sollte aus der bisherigen Behördenforschung bekannt sein. Wesentliche Fragen zu Personal, Struktur und Organisation des Ministeriums werden in Ruhkopfs Buch nur angeschnitten, da es sich vorrangig darauf konzentriert, "Ordnungsvorstellungen und Praktiken" des Ministeriums zu untersuchen und die "politische[n] Vorstellungen, Deutungen und Ziele" der Vertriebenenpolitik des Ministeriums herauszuarbeiten (26 f.). Aus arbeitsökonomischen Gründen erscheinen diese Fokussierung und die Aufteilung der Untersuchungsperspektiven auf mehrere Forscher sinnvoll, erst recht vor dem Hintergrund der Tatsache, dass eine Qualifikationsschrift wie die Dissertation des Autors zwingend in Alleinautorenschaft entstehen muss. Dem Anspruch der jüngeren Behördenforschung, die (NS-)Vergangenheiten des Personals und sachpolitische Entscheidungen eines Ministeriums nicht getrennt voneinander, sondern gerade durch den gegenseitigen Zusammenhang verstehen zu wollen, kann das Buch damit allerdings von Vornherein nicht voll gerecht werden.

Sieht man davon ab, dass dem Manuskript darüber hinaus einige Kürzungen und argumentative Straffungen gutgetan hätten, bietet Ruhkopfs Studie eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre. Der analytische Mehrwert des Buches liegt dabei weniger im Aspekt der Kontinuitäten zwischen NS-Zeit und Bundesrepublik, sondern mehr im besseren Verständnis darüber, wie ministerielles Handeln jenseits exekutiver Routinen und ohne untergeordnete Verwaltungsinstanzen nicht trotz, sondern gerade aufgrund dieses besonderen Zuschnitts des Bundesvertriebenenministeriums funktionieren konnte.

Anmerkungen:

[1] In den letzten Jahren beginnt sich dies erfreulicherweise zu ändern, vgl. u. a. Angela Schwarz, Angela / Heiner Stahl: Kontaktzone Bonn. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und die staatliche Öffentlichkeitsarbeit 1949-1969, Göttingen 2023 sowie in Kürze Jutta Braun: Das Bundespresseamt und die NS-Vergangenheit, in: Jutta Braun / Nadine Freund / Christian Mentel / Gunnar Take: Das Kanzleramt. Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergangenheit, Göttingen 2025, 614-788.

[2] Vgl. die entsprechende Projektbeschreibung: https://www.geschichte-vertriebenenministerium.de/projekt/ein-sonderministerium-klassischem-gewand (letzter Zugriff am 3.3.2025).

Felix Lieb