Rezension über:

Klaus-Michael Mallmann / Bogdan Musial (Hgg.): Genesis des Genozids. Polen 1939-1941 (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart; Bd. 3), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, 240 S., ISBN 978-3-534-18096-7, EUR 42,00
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Rezension von:
Stephan Lehnstaedt
München
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Lehnstaedt: Rezension von: Klaus-Michael Mallmann / Bogdan Musial (Hgg.): Genesis des Genozids. Polen 1939-1941, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 5 [15.05.2005], URL: https://www.sehepunkte.de
/2005/05/6896.html


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Klaus-Michael Mallmann / Bogdan Musial (Hgg.): Genesis des Genozids

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Zwei wichtige Sammelbände sind im letzten Jahr zur deutschen Okkupation Polens während des Zweiten Weltkriegs erschienen. In beiden Fällen zeichnet dabei Bogdan Musial als Herausgeber verantwortlich, für das hier vorliegende Buch gemeinsam mit Klaus-Michael Mallmann. Das Werk untersucht den Auftakt des Vernichtungskriegs im Osten bis 1941, während der andere Band mit der "Aktion Reinhardt" gewissermaßen die Fortsetzung dazu bildet. [1] Basierend auf einer vom DHI Warschau und der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart veranstalteten Tagung untersuchen zwölf Autoren Herrschaft und Gesellschaft in Polen während der ersten beiden Kriegesjahre.

Zu Recht bemängeln die Herausgeber in ihrer Einleitung, dass der geschichtspolitische Diskurs in Deutschland in den vergangenen Jahren über der Goldhagen-Debatte und der Wehrmachtsausstellung "das Polen der Jahre 1939 bis 1941 ausblendete" (7) und die deutschen Verbrechen vor dem Russlandfeldzug darüber in Vergessenheit gerieten; noch weniger Beachtung fand nur die sowjetische Herrschaft im Osten des Landes. Gerade Bogdan Musial zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass er diese Themengebiete intensiv untersucht hat. Gemeinsam mit zehn weiteren Autoren - überwiegend junge deutsche und polnische Wissenschaftler mit entsprechenden Forschungsgebieten - nehmen er und Klaus-Michael Mallmann sich verschiedener Aspekte eben jener zwei Jahre deutsch-sowjetischer Herrschaft in Polen an. Sieben der zwölf Beiträge thematisieren die nationalsozialistischen Gewalttaten und ihre Akteure - etwa Einsatzgruppen und Ordnungspolizei -, während sich die anderen fünf der einheimischen Gesellschaft widmen. Die sowjetische Besatzung tritt dabei etwas in den Hintergrund und ist Gegenstand von drei Aufsätzen. Nur Musial und Jacek Andrzej Młynarczyk vergleichen die beiden totalitären Systeme in Polen, ihre Praktiken sowie die damit verbundenen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle. Sie führen deutlich vor Augen, wie anregend der viel zu seltene komparatistische Blick sein kann. Młynarczyk zeigt in seinem Beitrag über "die polnische Gesellschaft unter deutscher und sowjetischer Herrschaft" die besonders im sowjetischen Teil zu beobachtende Auflösung der Gesellschaftsstruktur und ihren Zerfall in die verschiedenen Ethnien, die sich gegenseitig bekämpften. Obwohl beide Regime auf institutionelle Kooperation verzichteten, verstand es der Stalinismus in weit höherem Maße als der Nationalsozialismus, die verschiedenen Nationalitäten und sozialen Schichten gegeneinander auszuspielen und die vorhandenen Vorurteile für seine Zwecke auszunutzen. Im Westen des Landes hingegen erfolgte beispielsweise im Falle der Kaschuben das genaue Gegenteil: Bei einer von den Deutschen veranstalteten Volkszählung im Dezember 1939 bezeichneten sich viele von ihnen als Polen und verzichteten damit auf einen Sonderstatus; bei der nächsten Zählung war die Kategorie "Kaschube" aus dem Fragebogen getilgt.

Es kann nicht überraschen, dass die "Reaktionen der jüdischen Minderheit im deutsch besetzten Polen" ganz anders aussahen. Der Alltag im Ghetto wird von Andrea Löw anhand der jüdischen Selbstzeugnisse eindringlich geschildert. Man fragt sich allerdings, warum das mit einem ähnlichen Ansatz geschriebene Buch von Gustavo Corni zum gleichen Thema nicht rezipiert wird. [2] Wie vielschichtig die polnische Gesellschaft 1939 war, zeigt das Schicksal Oberschlesiens, in dem wiederum andere Bedingungen als im restlichen Polen herrschten. Adam Dziurok untersucht dieses Gebiet, in dem die deutsche Minderheit rund 12,5 Prozent aller Einwohner stellte. Dennoch gab es dort relativ gesehen wenige Probleme mit dem Wechsel der Staatszugehörigkeit, denn eine polnische Identität war aufgrund der Geschichte Schlesiens kaum ausgeprägt. Erst die antipolnischen Handlungen der Deutschen machten dieser Einstellung ein Ende. Bereits ab Mitte 1941 sieht Dziurok das Ende der kollektiven Geduld gekommen.

Die Gründe dafür, dass so etwas wie eine auch nur annähernde gesellschaftliche Toleranz gegenüber der deutschen Diktatur im übrigen Polen nie gegeben war, sind hauptsächlich in der Gewalt des nationalsozialistischen Regimes zu sehen, die bereits bei Kriegsbeginn stark ausgeprägt war. Dieser umfangreichste Teil des Buches soll hier mit zwei wichtigen Aufsätzen vorgestellt werden: Martin Cüppers kann in seiner Analyse der Waffen-SS anhand vieler Archivalien belegen, dass diese eine weit bedeutendere Rolle spielte, als bislang angenommen, denn "... auf eine so saubere und anständige SS-mäßige Art" - so der Titel seines Beitrags - wurde Polen schon vor den Gewaltexzessen auf weißrussischem Boden "erstes und richtungsweisendes Kapitel des deutschen Vernichtungskrieges in Osteuropa", (106) der nach Ansicht aller Autoren des Sammelbandes nicht erst 1941 begonnen hat. Jochen Böhlers Beitrag weitet die Geltung dieser Ergebnisse auf die Wehrmacht aus und liefert damit eine wichtige Korrektur des auf Martin Broszat zurückgehenden Bildes der "Verstrickung" des Militärs in die nationalsozialistische Terrorherrschaft in Polen. Er zeigt, dass die Wehrmacht keinesfalls nur den Verbrechen anderer Einheiten tatenlos zugesehen hat, sondern sich willig beteiligte. [3] Die Indoktrination der Truppe, die in der Gewalt gegen polnische und jüdische Zivilisten sowie Kriegsgefangenen mündete, lässt Böhler ein deutliches Resümee ziehen: "Deutsche Soldaten begingen vom ersten Tag des Septemberfeldzuges an Verbrechen gegen die polnische Bevölkerung, die durch Brutalität und die Bereitschaft gekennzeichnet waren, nicht nur gegen Einzelne, sondern gegen große Gruppen brutal und mörderisch vorzugehen" (50).

Die ausgewogene Themenauswahl des Sammelbandes aus politischer und gesellschaftlicher Geschichte macht zugleich unterschiedliche nationale Interessen der Forschung deutlich: Die Betrachtungen zur polnischen Gesellschaft stammen bis auf eine Ausnahme von polnischen Wissenschaftlern, während die Verbrechens- und Täterforschung ausschließlich in deutscher Hand ist. Die Literaturrezeption und besonders die Quellenkenntnis aller Verfasser ist beeindruckend, die Ausbreitung der Archivalien ist gerade für einen Sammelband nicht immer selbstverständlich. Alles in allem zeigt das hier vorliegende Werk eindrucksvoll, wie inhaltsreich und wissenschaftlich ergiebig Tagungen sein können. Mallmann und Musial haben eine bedeutsame Zusammenstellung der neuesten Forschung vorgelegt, die in ihrer Kompilation trotz des Erscheinens verschiedener Dissertationen der beitragenden Autoren ein wichtiges Werk bleiben wird. Als kleiner Wermutstropfen bleibt lediglich anzumerken, dass die Nutzung des Buches wegen des fehlenden Registers - bei dem recht stattlichen Preis eigentlich selbstverständlich - etwas eingeschränkt wird.


Anmerkungen:

[1] Bogdan Musial (Hg.): "Aktion Reinhardt". Der Völkermord an den Juden im Generalgouvernement 1941-1944, Osnabrück 2004.

[2] Gustavo Corni: I ghetti di Hitler. Voci da una società sotto assedio 1939-1944, Bologna 2001 (engl.: London 2002).

[3] Demnächst erscheint Jochen Böhler: Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt 2005.

Stephan Lehnstaedt