Rezension über:

Matthias Dahlke: Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972-1975 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 90), München: Oldenbourg 2011, X + 462 S., ISBN 978-3-486-70466-2, EUR 44,80
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Rezension von:
Beatrice de Graaf
Centre for Terrorism and Counterterrorism, Universiteit Leiden
Redaktionelle Betreuung:
Amit Das Gupta
Empfohlene Zitierweise:
Beatrice de Graaf: Rezension von: Matthias Dahlke: Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972-1975, München: Oldenbourg 2011, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 12 [15.12.2012], URL: https://www.sehepunkte.de
/2012/12/21402.html


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Matthias Dahlke: Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus

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Seit einigen Jahren betreut Johannes Hürter am Institut für Zeitgeschichte München ein einzigartiges Forschungsprojekt zum Thema historischer Terrorismusbekämpfung im Europa der 1970er und 1980er Jahre. Leitsatz dabei ist die Auffassung, dass bei der intensiven politikwissenschaftlichen Terrorismusforschung die Historisierung der Phänomene Terrorismus und Terrorismusbekämpfung auf der Strecke geblieben ist. Statt sich wie Soziologen und Politologen auf die Binnenstruktur und das Wirken terroristische Gruppen zu konzentrieren, sollten Historiker sich auch um den breiteren Kontext, insbesondere um die staatlichen Reaktionen und die Interaktion zwischen Staat, Gesellschaft und Terroristen bemühen. Hürters Projekt "Demokratischer Staat und terroristische Herausforderung" befasst sich deswegen in historischer Perspektive "mit dem nach wie vor aktuellen Problem, wie der moderne demokratische Staat westlicher Prägung den Terrorismus effizient bekämpfen kann, ohne die rechtsstaatlichen Prinzipien und die liberale Grundordnung aufs Spiel zu setzen. Es nimmt einen zentralen Bereich staatlichen Handelns in den westlichen Demokratien zwischen der Protestbewegung von 1968 und der Neuordnung Europas von 1989/90 in den Blick."

Matthias Dahlke hat 2011 mit seiner Studie "Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. Drei Wege zur Unnachgiebigkeit in Westeuropa 1972-1975" als einer der Ersten Ergebnisse dieses Projekts vorgelegt. Sie wurde 2009 an der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen und 2011 in der Reihe "Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte" publiziert. Dahlkes Hauptverdienst ist es, erstmals im deutschen Sprachraum eine umfassende, sehr informative und wohldurchdachte Darstellung der politischen Entscheidungsprozesse und der Frühgeschichte der Terrorismusbekämpfung in gleich drei Staaten vorgelegt zu haben: in der Bundesrepublik Deutschland, zu der er bereits früher veröffentlicht hatte [1], in Österreich und in den Niederlanden. Dahlke trifft dabei vorab eine Einschränkung: Er konzentriert sich nur auf die staatlichen Reaktionen auf den transnationalen Terrorismus der 1970er Jahre, als international vernetzte und operierende Terroristen Regierungen und Gesellschaften in Westeuropa durch Geiselnahmen und Entführungen erschütterten. Unter dieser Prämisse untersucht er zwei Leitfragen: Welche Taktiken und Strategien wurden dabei entwickelt? Und wie kamen die betroffenen Staaten auf unterschiedlichen Wegen zum Grundsatz der "Unnachgiebigkeit" den Terroristen gegenüber? Diese zweite Leitfrage impliziert auch gleich eine Hypothese: dass nämlich sich diese drei Staaten letztlich unnachgiebig zeigten - etwas, was Dahlke zwar eingehend, aber nicht ganz überzeugend "beweist", zumindest nicht im Falle Österreichs.

Dahlkes Darstellung der Attentate von München (1972), der Entführung von Peter Lorenz (1975), des Anschlags in Marchegg (1973), der OPEC-Geiselnahme in Wien (1975), der Besetzung der französischen Botschaft in Den Haag (1974) sowie der Geiselnahmen von Beilen und Amsterdam (1975) sind (mit einigen Abstrichen, siehe unten) exzellent recherchiert und beschrieben. Die Stärke dieses Buches liegt in der ausführlichen und manchmal schockierenden Schilderung der unmittelbaren Reaktionen innerhalb der verschiedenen staatlichen Institutionen. Dabei erschrecken vor allem sowohl der Mangel an technischen Mitteln als auch die Lässigkeit, mit der mit lebensbedrohlichen Situationen und rücksichtslosen Terroristen umgegangen wurde: Es fehlte schlichtweg an Telefonen und Minister verabschiedeten sich vor laufenden Kameras per Handschlag vom Topterroristen Carlos. Dahlke schildert fast im Stundentakt, wie die Krisenstäbe tagten, die Minister und ihre Sicherheitsbeauftragten chaotisch und verwirrt durcheinander liefen, manchmal gar keinen Kontakt zu den Terroristen hatten und - wie z.B. hinsichtlich der OPEC-Geiselnahme - die Entscheidungsfindung sich anfänglich in vollkommener Abschottung von der Außenwelt vollzog.

Dahlkes transnationaler und vergleichender Ansatz ist eine höchst willkommene Ergänzung der Fülle der bereits vorhandenen individuell-deskriptiven Länderstudien und Narrative. Trotzdem, und auch das ist ein Gewinn dieser Studie, bleiben einige Fragen zumindest teilweise offen. Die erste und wichtigste betrifft die Definition des Begriffs "Unnachgiebigkeit". Nur ganz kurz umreißt Dahlke, was er selbst darunter versteht: "Im Gegensatz zum reflektorischen Zurückweichen ist ein bewusstes, strategisches Entgegenwirken gemeint. Dies ist nicht automatisch mit Unerpressbarkeit oder Ablehnung von Verhandlungen gleichzusetzen. Während die österreichische Regierung im Anschlagsfall konkreten Forderungen von Terroristen nachgekommen ist, bildete sich trotzdem eine übergeordnete Strategie heraus, dem transnationalen Terrorismus die Stirn zu bieten" (9). Diese Definition trifft jedoch auf jede Terrorismusbekämpfungsstrategie zu. Denn welcher Staat würde dem Terrorismus nicht die Stirn bieten wollen? Ist das wirklich mit "Unnachgiebigkeit" gleichzusetzen? Es gibt es außerdem bereits eine Fülle von Literatur zu der Frage der "Negotiation", des Verhandelns mit Terroristen (siehe vor allem Adam Dolnik). [2] "Unnachgiebigkeit" ist vor diesem Hintergrund ein viel zu normativ formuliertes Konzept. Verhandeln oder Nachgeben kann ja durchaus taktisch benutzt werden, obwohl die übergeordnete Strategie unnachgiebig bleibt. Solche Differenzierungen hat Dahlke nicht wahrgenommen oder weiter ausgeführt.

Eine weitere offene Frage ist die nach dem eigentlichen Zweck der Unnachgiebigkeit, sowohl auf Seiten des Staates als auf Seiten der Terroristen. Was wollten die Autoritäten erreichen? Ging es vorranging um den Schutz der Geiseln, die Demonstration von Härte und Regierungsfähigkeit oder den Erhalt der guten Beziehungen zu den arabischen Staaten? Noch viel undeutlicher bleibt in Dahlkes Beschreibungen der Hintergrund der terroristischen Attentate selber. Zu der OPEC-Geiselnahme ist bereits viel geschrieben worden: Die Carlos-Aktion wird längst schlichtweg als Geldbeschaffungsmaßnahme betrachtet - Hintergründe, zu denen Dahlke sich kaum äußert. Gleichfalls ist hinlänglich bekannt, dass sowohl bei der Entführung von Lorenz als bei den Geiselnahmen der Molukker in den Niederlanden Konkurrenzdenken der Terroristen in Bezug auf ihre eigenen "Constituencies", Sympathisanten und Unterstützer eine Rolle spielte.

Dahlkes Darstellung zu Österreich ist von Thomas Riegler bereits kritisch hinterfragt worden. [3] Wo Dahlke sich fast ausschließlich positiv und sogar lobend über Bundeskanzler Bruno Kreiskys Weitsicht, seine strategische Sicherheitspolitik und sein Bestreben nach Internationalisierung und einer größeren Gewichtung Österreichs in der Welt auslässt und ihm "strategische Unnachgiebigkeit" den Terroristen gegenüber unterstellt, zieht Riegler ganz andere Schlüsse: Kreisky habe "den Weg des geringsten Widerstandes" gewählt, indem er das Transitlager in Marchegg auflöste und die schnelle Ausreise der Entführer in den Jahren 1973 und 1975 bewirkte. Seine Nahostpolitik und die "Hoffähigmachung" der PLO hätten "keine Erfolge gehabt" und im Gegenteil sogar die vehemente Gegnerschaft der Abu-Nidal-Gruppe und eine Reihe von Attentaten in den 1980er Jahren nach sich gezogen. Riegler kommt gar zu dem Schluss, dass Kreisky "rechtsstaatliche Prinzipien zum Zwecke eigener Sicherheit [verbogen]" hat (474).

Auch zu den Niederlanden liegen - unter anderem von der Rezensentin [4] - bereits Studien vor. Dahlke hat zweifelsohne eine Fülle von neuen Materialien aus den niederländischen Archiven zutage gefördert, und seine Darstellung der unterschiedlichen Verhandlungen während der jeweiligen Krisen ist eine wichtige Ergänzung der knappen Literatur auf Niederländisch. Jedoch fehlt hier die Einbettung in den breiteren historischen Kontext, was sich auch im Fehlen einiger wesentlicher niederländischer Studien in der Bibliographie dokumentiert. Die Tatsache zum Beispiel, dass Terrorismusbekämpfung in den Niederlanden unter den Primat der Justizpolitik fällt, hat nicht nur mit der Rolle des damaligen Justizministers Dries van Agt zu tun, sondern auch mit der speziellen Struktur von Polizei und innerer Sicherheit. Diese unterstehen in den Niederlanden bereits seit den Zeiten der französischen Herrschaft dem Justizministerium. Außerdem besitzt der Ministerpräsident keine Richtlinienkompetenz oder gar Weisungsbefugnis, womit die Minister weitgehend autonom Entscheidungen treffen können. Deswegen ist die Schlussfolgerung, dass Premier Joop den Uyl sich habe zurückdrängen lassen, historisch so nicht haltbar. Schließlich sind noch einige unnötige kleinere Fehler zu korrigieren: Dahlke zitiert zum Beispiel Regierungsquellen, in denen 1977 festgehalten wurde, dass die Molukker Terroristen während der Stürmung des Zuges noch Geiseln erschossen. Dabei ist längst bekannt, dass nicht die Geiselnehmer, sondern versehentlich Spezialeinheiten die tödlichen Schüsse abgaben. Dies sorgt bis auf den heutigen Tag für Kontroversen zwischen der Gemeinschaft der Molukker und den Staatsorganen. Auch Jahreszahlen sind nicht immer korrekt wiedergegeben: so wurde beispielsweise der berühmte "Terrorbrief" bereits im Mai 1973 breit im niederländischen Parlament sowie in der Öffentlichkeit diskutiert (und nicht erst 1976, wie Dahlke schreibt).

Kurzum: Dahlkes Studie ist ein wichtiger, kluger und unverzichtbarer Beitrag für jeden, der an den historischen Grundlagen von Terrorismus- und Terrorismusbekämpfung in Westeuropa interessiert ist. Die Kritik an offengebliebenen Fragen und kleineren Lücken soll dem Werk nichts von seiner unbestrittenen Bedeutung nehmen, sondern lediglich darauf hinweisen, wie wichtig es ist, mehr transnationale Forschungsprojekte zu vergleichender Terrorismusgeschichte zu initiieren und sich über deren Ergebnisse international auszutauschen.


Anmerkungen:

[1] Matthias Dahlke: Der Anschlag auf Olympia '72. Die politischen Reaktionen auf den internationalen Terrorismus in Deutschland, München 2006; Matthias Dahlke: Das Wischnewski-Protokoll. Zur Zusammenarbeit zwischen westeuropäischen Regierungen und transnationalen Terroristen 1977, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), Heft 2, 201-215.

[2] Adam Dolnik: Negotiating Hostage Crises with the New Terrorists, Westport CT 2007.

[3] Thomas Rieger: Im Fadenkreuz: Österreich und der Nahostterrorismus 1973 bis 1985, Göttingen 2011.

[4] Beatrice de Graaf: Evaluating Counterterrorism Performance. A Comparative Approach, Oxford/New York 2011; Beatrice de Graaf: Terrorismusbekämpfung und Sicherheitspolitik in den Niederlanden zwischen 1970 und 1990, in: Vom Majestätsverbrechen zum Terrorismus. Politische Kriminalität, Recht, Justiz und Polizei zwischen Früher Neuzeit und 20. Jahrhundert, hg. v. Beatrice de Graaf / Karl Härter, Frankfurt am Main 2012, 403-424; Beatrice de Graaf / Froukje Demant: Killing It Softly? Explaining the early demise of left-wing terrorism in the Netherlands, in: Terrorism and Political Violence, 22 (4), 642-659; Beatrice de Graaf: Theater van de angst. De strijd tegen terrorisme in Nederland, Duitsland, Italië en Amerika, Amsterdam 2010.

Beatrice de Graaf