Rezension über:

Nils Freytag: Das Wilhelminische Kaiserreich 1890-1914 (= Seminarbuch Geschichte), Stuttgart: UTB 2018, 286 S., 2 Kt., 21 s/w-Abb., 3 Tbl, ISBN 978-3-8252-2892-7, EUR 24,99
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Rezension von:
Hartwin Spenkuch
Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Hartwin Spenkuch: Rezension von: Nils Freytag: Das Wilhelminische Kaiserreich 1890-1914, Stuttgart: UTB 2018, in: sehepunkte 19 (2019), Nr. 2 [15.02.2019], URL: https://www.sehepunkte.de
/2019/02/32499.html


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Nils Freytag: Das Wilhelminische Kaiserreich 1890-1914

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Nils Freytag, Studienreferent am Historischen Seminar der LMU München und Herausgeber der UTB-Reihe Seminarbuch Geschichte [1], in der dieser (siebte) Band erscheint, legt einen neuen Grundriss zum Wilhelminischen Kaiserreich vor. Das Taschenbuch ist für die BA/MA-Studiengänge konzipiert, sprachlich verständlich abgefasst, durch Marginalspalten gegliedert, via Orts-, Personen- und Sachregister erschlossen. Gemäß Reihenkonzept werden diverse Forschungsdebatten skizziert, Quellenauszüge und Begriffsklärungen eingestreut sowie umfangreiche Literaturhinweise - darunter erfreulicherweise auch weiterhin nicht überholte Titel der 1980er und 1990er Jahre - für das Selbststudium geboten. Freytag will "ein buntes und ausgewogenes Bild einer ebenso spannungsgeladenen wie spannenden" Epoche (10) zeichnen.

Drei Blickwinkel speziell sollen verfolgt werden: Transnationale Perspektiven, Ausprägungen von Gewalt und Formen von Ausbeutung (7). Gerahmt von Einleitung und Bilanz, befassen sich drei Hauptkapitel mit Bevölkerung, Wirtschaft, Umwelt; Gesellschaft, Kultur, Glauben; Herrschaft, Staat, politischer Massenmarkt. Sie umfassen je 60-90 Seiten und sind breit gespannt. Im ersten Teil dominieren Demographie, Migration, soziale Frage und technische Innovationen. Freytag nimmt gewissermaßen eine grüne Sichtweise ein, in der Umwelt und Ressourcen in einem Unterkapitel behandelt, aber auch sonst ökologische Fragen immer wieder berührt werden. Zuweilen werden auch Probleme der Gegenwart parallelisiert. Im zweiten Hauptkapitel steht der Begriff Konflikt obenan: Zwischen sozialen Schichten und Konfessionen, gegenüber Minderheiten, auf den Feldern Nationalismus und Militarismus. Dazu treten die vergleichsweise modernen Themenbereiche Massenkultur und Konsum, Bildung und Protestbewegungen sowie Strafregime. Im Kapitel Staat und Politik bringt Freytag zunächst die strukturellen Grundlagen des Regierungssystems, dann die Kanzlerschaften von Caprivi bis Bethmann Hollweg und abschließend zwei Abschnitte zur Außenpolitik bzw. Julikrise 1914 unter. Es ist insgesamt ein schlüssiges Konzept mit plausiblen Proportionen, das kaum ein Themenfeld auslässt.

An drei Stellen widerspricht Freytag dem Münchener Übervater Thomas Nipperdey dezidiert: Dessen einerseits effizientes, andererseits autoritäres Janusgesicht der deutschen Verwaltung ist ihm zu negativ gestimmt (186); die berühmten unendlichen Grau-Schattierungen hält er der Buntheit des Kaiserreiches für nicht angemessen (255). Nipperdeys Bandtitel 'Machtstaat vor der Demokratie' interpretiert er semantisch nicht im Sinne von Vorrang, sondern als Abfolge; real vor der Tür gestanden habe die parlamentarische Monarchie im Reich aber selbst 1914 keineswegs (162). Einige in wenigen Sätzen skizzierte Forschungskontroversen sind nicht mit Anmerkungen zentraler Literaturstücke unterlegt, etwa Bürgertumsforschung, zweite industrielle Revolution, Säkularisierung, preußischer Sonderweg. Dies ließe sich nachholen.

Der sechsseitige Schluss stellt Kontinuitäten vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus - primär Antisemitismus, Radikalnationalismus, Militarismus, Kampf gegen die Sozialdemokratie - heraus, bezeichnet die Debatte um den Sonderweg als historiographisch produktiv, aber sieht im Kaiserreich vielmehr eine "Spielart des westlichen Modernisierungspfades" (254). Die Aufbrüche in die Moderne und die Ambivalenzen des frühen 20. Jahrhunderts gehören für Freytag zusammen; eine Gegenüberstellung von Schattenseiten und positiven Entwicklungen erfasse das nicht. Etliche Probleme des Wilhelminismus seien erst nach 1945 leidlich gelöst worden. Wie viele Jüngere seit James Retallack 1996 konstatiert Freytag kein einheitliches Bild, sondern ein überaus buntes. [2] Diese ausgewogene, aber zugleich letztlich unentschiedene Positionierung ist eine Frage persönlichen Temperaments und spiegelt wohl Skepsis gegenüber Grand Narratives. Allerdings vermeidet Freytag jedes Weichzeichnen. Er betont vielfach die autoritären Züge und nationalistischen -ismen, die Gegensätze in der Klassengesellschaft und die Defizite im Politikbereich, weit deutlicher als etwa Frank-Lothar Krolls positiv akzentuierte, ja harmonisierende "Geburt der Moderne". Nach Ansicht des Rezensenten zu Recht. Auf mehrfach größerem Druckraum kann Freytag eine thematisch breitere Darstellung liefern als das auf Politik im engeren Sinne konzentrierte Bändchen "Das Deutsche Kaiserreich" von Christoph Nonn, und ergänzt den älteren Kaiserreich-Band von Hans-Peter Ullmann um Perspektiven der neueren Forschung. [3]

Ohne Beckmesserei seien faktische Inkorrektheiten benannt, die in erwartbaren Neuauflagen korrigiert werden können: Caprivi war nicht Sohn eines österreichischen Juristen, sondern eines Berliner Obertribunalrats (187); Hohenlohe wurde von Wilhelm II. als Onkel tituliert, war aber im bürgerlichen Sinne kein Verwandter (191), Bethmann Hollwegs Frankfurter Bankiersherkunft lag wegen Professoren-Großvater Moritz August und Gutsbesitzer-Vater Felix weit zurück (204); der bayerische Reichsrat umfasste 1912 nicht 32, sondern gut 80 Mitglieder (182); das Reich finanzierte um 1900 kaum den Kulturbereich, der Länderdomäne blieb (135); das "System Althoff" bestand nicht nur in Ausbau und Finanzierung der Hochschulen, sondern umfasste weitere, auch kritikwürdige Komponenten (132); preußische Vereinsgesetz-Novelle 1897 und Lex Arons 1898 sind zweierlei (192f.). Die Titanic sank am 15.4.1912 (258). Manche beiläufigen Einschätzungen erscheinen zweifelhaft: Bildeten gerade Nationalismus und Weltpolitik charakteristische Themen des Zentrums (170)? Ist die Freisinnige Vereinigung primär als rechtsliberale Freihandelspartei zu sehen (166) und die demokratische Deutsche Volkspartei ganz wegzulassen? Lehnte die SPD-Mehrheit Fundamentalopposition gegen die Heerespolitik wirklich ab (144)? Stellten Tugendhaftigkeit und Arbeit für das Gemeinwohl Fixsterne am Wertehimmel des Adels dar (74)? Gehörte neben Simmel gerade Gustav Schmoller zu den wenigen liberalen Professoren (133), nicht etwa Theodor Mommsen, Ferdinand Tönnies oder Hugo Preuß?

Ungeachtet all dieser Details: Unter den vorliegenden, kompakten Einstiegswerken für Studenten und andere Interessierte ist Freytags weitgespannter Band unzweifelhaft erste Wahl.


Anmerkungen:

[1] Weitere UTB-Bände zum 19. Jahrhundert legten vor: Alexa Geisthövel: Restauration und Vormärz 1815-1847, Paderborn 2008; Beate Althammer: Das Bismarckreich 1871-1890, 2. Aufl., Paderborn 2017; Michael Epkenhans: Der Erste Weltkrieg 1914-1918, Paderborn 2015.

[2] James Retallack: Germany in the Age of Kaiser Wilhelm II, New York 1996, 112.

[3] Frank-Lothar Kroll: Geburt der Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur vor dem Ersten Weltkrieg, Bonn 2013 (Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert); Christoph Nonn: Das Deutsche Kaiserreich. Von der Gründung bis zum Untergang, München 2017; Hans-Peter Ullmann: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Frankfurt a. M. 1995.

Hartwin Spenkuch