Christine Vogel: Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758-1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Bd. 207), Mainz: Philipp von Zabern 2006, X + 433 S., 38 s/w-Abb., ISBN 978-3-8053-3497-6, EUR 51,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michael Müller: Fürstbischof Heinrich von Bibra und die Katholische Aufklärung im Hochstift Fulda (1759-88). Wandel und Kontinuität des kirchlichen Lebens, Fulda: Verlag Parzeller 2005
Robert Seidel: Literarische Kommunikation im Territorialstaat. Funktionszusammenhänge des Literaturbetriebs in Hessen-Darmstadt zur Zeit der Spätaufklärung, Tübingen: Niemeyer 2003
Reinhard Markner / Monika Neugebauer-Wölk / Hermann Schüttler (Hgg.): Die Korrespondenz des Illuminatenordens, Band 1: 1776-1781, Tübingen: Niemeyer 2005
Florian Kühnel / Christine Vogel (Hgg.): Zwischen Domestik und Staatsdiener. Botschaftssekretäre in den frühneuzeitlichen Außenbeziehungen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021
Peter Burschel / Christine Vogel (Hgg.): Die Audienz. Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Christine Vogel / Herbert Schneider / Horst Carl (Hgg.): Medienereignisse im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge einer interdisziplinären Tagung aus Anlass des 65. Geburtstages von Rolf Reichhardt, München: Oldenbourg 2009
Als Mitte August 1773 die Aufhebung des Jesuitenordens durch Papst Clemens XIV. öffentlich verkündet wurde, konnte die Entscheidung die Zeitgenossen kaum mehr überraschen. Seit den ersten antijesuitischen Maßnahmen der portugiesischen Regierung an der Jahreswende 1758/59 hatte die Gesellschaft Jesu im Zentrum einer europaweiten Debatte gestanden, die in unterschiedlichen Medien ausgetragen wurde. Offizielle Verlautbarungen, Zeitungsartikel, Zeitschriftenaufsätze, Predigten, Pamphlete, gelehrte Abhandlungen und Kupferstiche begleiteten jede Etappe des Niedergangs des einst mächtigen Ordens, von der Vertreibung aus Portugal über die Unterdrückung in Frankreich, Spanien, Neapel und Parma in den frühen 1760er Jahren bis hin zur offiziellen Auflösung durch das Breve Dominus ac Redemptor.
Über nationale Grenzen hinweg diskutierten Anhänger und Gegner das Schicksal der Societas Jesu: sie erörterten die angeblichen Verfehlungen des Ordens in der Gegenwart, verstrickten sich in Polemiken über jahrhundertealte antijesuitische Klischees und kritisierten oder befürworteten staatliches Vorgehen gegen die Patres. Sprachbarrieren wurden durch Übersetzungen zentraler Debattenbeiträge, Nachdrucke französischsprachiger Texte oder den Rückgriff auf universal verständliche visuelle Darstellungen überwunden. Es entstand ein transnationaler Kommunikationszusammenhang, wie er gerade für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts immer typischer werden sollte.
Einzelne Aspekte dieser "Jesuitendebatte" sind, vornehmlich in nationalen Kontexten, bereits untersucht worden. Doch in ihrer Gesamtheit hat die Kontroverse bislang noch keinen Bearbeiter gefunden. Umso größere Aufmerksamkeit darf die Arbeit von Christine Vogel, eine Gießener Dissertation, beanspruchen, der es gerade um die Konstituierung der publizistischen Auseinandersetzung als "europäisches Medienereignis" geht. Dabei muss natürlich auch Vogel eine Eingrenzung ihres Gegenstands vornehmen, um die Masse der Quellen (Presseberichterstattung, Streitschriften, Bildpublizistik) bewältigen zu können. So klammert sie den gesamten ostmitteleuropäischen Raum, in dem der Jesuitenorden ebenfalls stark vertreten war, sowie das protestantische Nordeuropa aus und beschränkt sich auf den italienischen, deutschen und vor allem französischen Sprachraum als Kerngebiete ihrer Studie, wobei Ausblicke auf die Verhältnisse auf der iberischen Halbinsel nicht fehlen (19). Trotz dieser Beschränkung hat sie es immer noch mit Hunderten einschlägiger Publikationen zu tun, wie die mehr als 70 Seiten umfassende Bibliographie im Anhang der Studie eindrucksvoll belegt.
Zeitliche Schnitte müssen daher helfen, das überbordende Material zu bändigen. In ihren drei Hauptteilen behandelt Vogel jeweils eine distinkte Phase der Debatte: die Auseinandersetzung um die Ausweisung der Jesuiten aus Portugal in den Jahren 1758-1761, die den Auftakt der "Jesuitendebatte" markierte, die Kontroverse um die Unterdrückung des Ordens in Frankreich zwischen 1761 und 1764 sowie die öffentliche Resonanz auf die päpstliche Aufhebung und ihre Vorgeschichte. Von diesen Abschnitten nimmt der erste den größten Raum in Vogels Untersuchung ein. In ihm kommt auch die Herangehensweise der Verfasserin am sinnfälligsten zum Ausdruck. Sie untersucht die Debatte nämlich zunächst in ihren äußeren Abläufen, d.h. sie rekonstruiert die Diskussion der den Geschehensablauf vorantreibenden Ereignisse in den verschiedenen Medien. Im Einzelnen wertet sie etwa die europaweite Presseberichterstattung über die politische Entwicklung in Portugal aus und beschreibt die beginnende Polarisierung zwischen pro- und antijesuitischen Positionen.
Darüber hinaus analysiert sie Kupferstiche, die antijesuitische Argumente in deutlich zugespitzter Form präsentierten, und zeichnet die publizistische Kampagne der portugiesischen Regierung nach, die vielfach die Stichworte für den weiteren Debattenverlauf vorgab. Auch die Rezeption in den nationalen Öffentlichkeiten Frankreichs, Deutschlands und insbesondere Italiens, das bei der Vermittlung der portugiesischen Debatte in einen weiteren europäischen Diskussionszusammenhang eine Vorreiterrolle spielte, findet in eigenen Unterkapiteln Berücksichtigung. In einem zweiten Schritt wird die Untersuchung der "ereignistragenden Texte" (224) dann um eine Verortung der Debattengegenstände in zeitgenössischen Diskursen oder argumentativen Traditionslinien ergänzt. Erst durch die Kenntnis früherer Kontroversen zwischen Jesuiten und Jansenisten und der damals entwickelten heilsgeschichtlichen und martyrologischen Vorstellungen sowie überkommener antijesuitischer Stereotypen, von den angeblichen monarchomachischen Lehren des Ordens bis hin zu verschwörungstheoretischen Konstrukten, gewinnen die Ereignisse der Jahre 1758-1761 ihre historische Tiefendimension.
In ähnlicher Weise wird auch die zweite Phase der Kontroverse kontextualisiert, als sich der Schauplatz von Portugal nach Frankreich verlagerte. An die Stelle der portugiesischen Regierung tritt nun die parti janséniste und insbesondere die parlements, deren Verlautbarungen in den Augen Vogels der regierungsamtlichen Kampagne der ersten Phase entsprachen und nunmehr die Themen der Debatte setzten. Jansenistische Schriftsteller, allen voran der produktivste antijesuitische Autor jener Jahre, Louis-Adrien Le Paige, hatten bereits 1760 den Gegnern der Gesellschaft Jesu wichtige Argumentationshilfen an die Hand gegeben, als sie die in den Jahren zuvor entwickelten Ansätze zu einer jesuitischen Verschwörungstheorie systematisierten und die "Idee einer drohenden jesuitischen Weltherrschaft" (213) propagierten. Auch die Bildpublizistik transportierte wieder einen virulenten Antijesuitismus, der in der Darstellung mordender Jesuiten sicherlich seinen radikalsten Ausdruck fand.
Allerdings blieben, wie Vogel zeigt, die Jesuiten und ihre Anhänger im französischen Episkopat ihren Opponenten in dieser zweiten Phase eine Antwort nicht mehr schuldig. Sie entwickelten eine jansenistische Verschwörungstheorie, die sie der schwarzen Legende des Ordens entgegenstellten. Gleichzeitig verschmolz der antijansenistische Diskurs mit Angriffen auf die philosophes zu einem umfassenden Lamento über den Verfall der Religion und einer moralischen Kritik an den Zeitläuften, die zu zentralen Versatzstücken der katholischen Gegenaufklärung in den letzten drei Jahrzehnten des Jahrhunderts werden sollten. Trotz der Langzeitwirkung dieses Argumentationsstrangs blieb die Resonanz der französischen Debatten im europäischen Rahmen jedoch hinter jener der portugiesischen Kontroverse in der ersten Phase zurück. Die enge Verknüpfung der Auseinandersetzung um die Unterdrückung der Jesuiten mit den Streitigkeiten zwischen den parlements und der französischen Monarchie machten sie für eine Rezeption außerhalb Frankreichs ungeeignet.
Der rückläufige Grad der Europäisierung setzte sich auch in der dritten Phase unvermindert fort - mit gravierenden Konsequenzen für die Anlage von Vogels Studie. Fiel die Untersuchung der zweiten Phase schon deutlich kürzer aus als jene der ersten, 90 Seiten im Vergleich zu 160, so wird die dritte Phase nur noch auf weniger als zwanzig Seiten abgehandelt. Geboten wird lediglich noch ein kursorischer Überblick über die Ereignisse der Jahre bis 1773 und eine Aufzählung einzelner Debatten. Auch wenn es nach 1765 nicht mehr im selben Maße zum Austausch von Argumenten über nationale Grenzen hinweg gekommen sein mag wie zuvor, hätte man sich doch eine etwas ausführlichere Erörterung gewünscht. So entsteht der Eindruck, die publizistische Auseinandersetzung, verstanden als transnationales, europäisches Phänomen, sei schon 1765 zu Ende gegangen und nicht erst 1773, wie die Autorin in ihrer Einleitung und über weite Strecken des Textes immer wieder behauptet.
Der etwas unbefriedigende Ausklang der Arbeit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Vogel eine fundierte kommunikationsgeschichtliche Studie vorgelegt hat, die wie wenige andere die transnationale Dimension der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert ernst nimmt. Auch die konstante Einbeziehung visueller Quellen, die nicht reine Illustration sind, sondern als genuiner Bestandteil des Argumentationsgangs begriffen werden und nebenbei auch zur Aufnahme von immerhin 38 Abbildungen geführt haben, unterstreicht den Anspruch des Bandes. Daneben bietet Vogels Untersuchung auch im Kleinen immer wieder interessante Aufschlüsse, etwa wenn sie die vermeintliche Objektivität der Tagespresse im 18. Jahrhundert als Chimäre entlarvt und bewusste Verzerrungen in der Berichterstattung selbst so hoch gelobter Organe wie des Hamburgischen Unpartheyischen Korrespondenten nachweist; oder wenn sie die Schwierigkeiten der Gesellschaft Jesu bei der Entwicklung einer wirksamen publizistischen Verteidigungsstrategie nicht allein mit staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen erklärt, sondern auch mit mentalen Vorbehalten gegenüber einer Öffentlichkeit, die selbst dem einfachen Manne die Erörterung von Glaubensfragen gestattete. Bemerkenswert ist auch der - leider nicht näher erläuterte - Befund, dass keine der deutschsprachigen Stellungnahmen zur Jesuitendebatte in eine andere Sprache übersetzt wurde. Nicht zuletzt dank solcher Einsichten darf sich die Arbeit des Interesses nicht nur der Kirchen-, sondern auch der Kommunikationshistoriker sicher sein.
Michael Schaich