Peter Opitz (Hg.): 500 Jahre Reformation. Rückblicke und Ausblicke aus interdisziplinärer Perspektive, Berlin: De Gruyter 2018, VIII + 270 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-054009-3, EUR 79,95
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Volker Leppin: Das Zeitalter der Reformation. Eine Welt im Übergang, Stuttgart: Theiss 2009
Werner Freitag / Wilfried Reininghaus (Hgg.): Beiträge zur Geschichte der Reformation in Westfalen. Band 2: Langzeitreformation, Konfessionskultur und Ambiguität in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Münster: Aschendorff 2019
Anja Rasche / Nils Jörn: Reformation in Wismar. Personen - Orte - Objekte, Wismar: callidus 2018
Olga Weckenbrock (Hg.): Ritterschaft und Reformation. Der niedere Adel im Mitteleuropa des 16. und 17. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018
Dorothea Wendebourg (Hg.): Sister Reformations. The Reformation in Germany and in England. Symposium of the 450th Anniversary of the Elizabethan Settlement, 23--26. September 2009, Tübingen: Mohr Siebeck 2010
Ute Lotz-Heumann / Susan Karant-Nunn (eds.): The Cultural History of the Reformations. Theories and Applications, Wiesbaden: Harrassowitz 2021
Volker Leppin / Stefan Michels (Hgg.): Reformation als Transformation? Interdisziplinäre Zugänge zum Transformationsparadigma als historiographischer Beschreibungskategorie, Tübingen: Mohr Siebeck 2022
Peter Opitz (ed.): The Myth of the Reformation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013
Emidio Campi / Peter Opitz (eds.): Heinrich Bullinger. Life - Thought - Influence. Zurich, Aug. 25-29, 2004. International Congress Heinrich Bullinger (1504-1575), Zürich: TVZ 2007
Christoph Strohm: Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München: C.H.Beck 2009
Diese Rezension ist das Ergebnis einer z.T. sehr anregenden Lektüre: 12 Historiker, Theologen, Religionswissenschaftler, Soziologen und Juristen mehrheitlich von der Universität Zürich legen in einem Band die Ergebnisse einer Ringvorlesung vor, die sich 2017 dem historischen Zusammenhang von Universitätsbildung und Reformation in Zürich widmete. Die genannten Disziplinen skizzieren ihren aktuellen Blick auf das Ereignis bzw. die Bewegung Reformation, das/die in Zürich mit dem Jahr 1525 begann. Das Anregende einiger Beiträge dieser Sammlung ist, dass ein unverwechselbarer Beleg für die Logik geisteswissenschaftlicher Forschung auf den Begriff gebracht wird als Kontextualisierung. Das beginnt mit dem Überblick des Herausgebers P. Opitz, der aus der Perspektive des Wissenschaftshistorikers die Zeitbindungen der Säkularfeiern der Reformation skizziert. Es setzt sich fort in der kenntnisreichen Skizze, die der Alttestamentler Th. Krüger über die Rezeption der zeitgenössischen Bibelwissenschaft durch die Reformatoren gibt. Der humanistische Ruf "ad fontes" führte sie zurück zur hebräischen Bibel, dadurch öffnete sich in Protestantismus wie Judentum das Wissen um die Zeitgebundenheit von Neuem und Altem Testament bereits im 16. Jahrhundert. Das Wissen wurde aber zugleich getrübt durch die Absicht, die Bibel bei Konflikten als normative Grundlage im jeweils eigenen Interesse zu nutzen. Hier knüpft die Frage des Neutestamentlers J. Frey an: "Hat Luther Paulus missverstanden?" Sie zu stellen, setzt die Annahme einer zeitungebundenen Deutung voraus, eine Aussage, die die gegenwärtige theologische Forschung nicht akzeptiert. Stattdessen hat sich in den letzten Jahren eine Entlutheranisierung der Paulusexegese vollzogen (New Perspective on Paul). Das Fazit: "Jede Rezeption biblischer Texte oder Sachverhalte in einer anderen Zeit impliziert eine Verschiebung der Perspektive" (64). Die Fragen der Reformatoren an die Paulustexte sind grundlegend verschieden von denen, die die Gegenwart stellt. Damit gibt es ein "richtiges Verstehen" durch Luther ebenso wenig wie ein "richtiges Verstehen" durch die Gegenwart. Weder die Lutherverherrlichung des 19. Jahrhunderts noch die "heute [...] allzu wohlfeile Fokussierung auf die Schattenseiten Luthers ist angebracht." (78)
Diese Relativierung sogenannter "theologischer Kernaussagen der Reformation" nimmt die systematische Theologin Chr. Tietz auf und betont die Legitimität einer "dogmatischen Theologie", die die Reformation als theologisches Ereignis versteht, eine Theologie zudem, die nach der Aktualität jener reformatorischen Theologie fragt . Der Streit zwischen beiden Richtungen hatte sich 2017 anlässlich der 500-Jahrfeier zugespitzt. Im Vergleich der theologischen Kerngedanken des Züricher und des Wittenberger Reformators verfolgt Tietz das theologische Selbstverständnis beider Reformatoren in Gestalt des sola scriptura Verständnisses bei Zwingli einerseits, der theologia crucis bei Luther andererseits. Auch die aktuelle systematische Theologie behauptet ein ungebrochenes Verständnis der Bibel als Gottes Wort nicht mehr. Die zentrale Aufgabe sei deshalb die Erarbeitung einer Bibelhermeneutik, die den biblischen Text als Zentrum für die gegenwärtige Theologie versteht.
Hier knüpft auch R. Kunz (Praktische Theologie) an, indem er nach der Reformation als Frömmigkeitsbewegung fragt. Das war die Reformation des 16. Jahrhunderts zweifellos, problematisch bleibt aber auch für diese Überlegungen, ob und wenn ja wie, eine aktuelle Spiritualitätsforschung an die Bewegung des 16. Jahrhunderts anknüpfen kann. Der Autor bekennt, dass das Wörtchen "fromm" sich "als ein schwieriger Freund erweist." (97). Das ist für Historiker schon immer offensichtlich, der praktische Theologe hat andere Forschungsziele. Ob die Verbindung zur Reformation hilfreich ist, bleibt eine offene Frage.
Eine ähnliche Skepsis gilt für den Versuch der Religionspädagogik (Th. Schlag), die Reformation an den Anfang einer Traditionslinie zu stellen, die in die "religiöse Bildung in pluralen Gesellschaften" mündet. Dass die reformatorische Bewegung ein ausgeprägtes Bildungsziel hatte, da alle Gläubigen die Bibel selbst lesen können sollten, ist in den vergangenen Jahrzehnten von der Reformationsforschung vielfach bestätigt worden. Ob dieses Ziel aber als "das Ausmisten des Augiasstalls der staatlich-kirchlichen Entmündigungskoalition" (112) beschrieben werden sollte, ist ernsthaft zu bezweifeln. Die Formulierungen gehen am Ertrag der jüngeren Forschung vorbei.
Der Blick auf die Positionen der römisch-katholischen Seite, die die Auseinandersetzungen mit der reformatorischen Theologie führte, ist für das Konzept des Bandes wichtig. Deshalb auch ist deren Skizzierung aus fundamentaltheologischer Sicht (E.-M. Faber) hilfreich, auch wenn der bis heute erreichte differenzierte Forschungsstand kaum ausgeleuchtet werden konnte.
Das Verhältnis zwischen reformatorischer Theologie und Rechtslehre erwies sich für die Institutionalisierung der neuen Kirchenverfassung als entscheidend. Es trifft zu, worauf A. Thier (Kirchenrecht) verweist, dass Luther große Skepsis gegenüber römischem und kanonischem Recht hegte. Der nachfolgenden Generation der Reformatoren aber wurde rasch klar, dass eine Kirchenordnung ohne rechtliche Grundlegung chancenlos sein würde. Deshalb musste die Kooperation zwischen Theologie und Recht wiederbelebt und gefestigt werden. Diese Entwicklung aber war nicht gleichzusetzen mit dem "Aufstieg des Staates". Die sehr differenzierte jüngere Forschung zur Herrschaftsbildung im Europa des 16.-18. Jahrhunderts hat herausgearbeitet, dass es keineswegs um eine stetig wachsende Staatsbildung und soziale Disziplinierung ging. Vielmehr lassen sich große regionale Unterschiede v.a. in der politischen Teilhabe feststellen. Leider kommen sie in dem Beitrag zu kurz.
Regionalität ist dafür im Beitrag des Historikers Th. Maissen ein wichtiges Argument. Seine Skizze der Entscheidungswege, die sich für Bürger, Bauern, Adel/Hochadel unmittelbar nach 1517/1520 öffneten, zeigt, dass die reformatorische Bewegung politische Teilhabemöglichkeiten eröffnete, sofern sich im schweizerischen Rahmen Rat und Bürgerschaften in Religionsgesprächen darüber verständigten, welcher Seite man folgen wolle. Entsprechendes vollzog sich auch für die ländlichen Regionen in den Bündner Talschaften. Das Prinzip, die Bibel als Quelle der Wahrheit für politische und religiöse Ordnung zu nutzen, lag auch den Entscheidungen im Alten Reich zugrunde. Rasch konzentrierte sich die weitere Entwicklung um die Frage, wo die Grenze zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre in der Einheit der politica christiana verläuft. Darüber entstanden heftigste politische Debatten und schließlich Kämpfe. Eine Nationalkirche wie in anderen Regionen Europas entstand im Alten Reich nicht.
Den Blick auf die Folgen der Reformation für die politisch-theologischen Debatten des 21. Jahrhunderts schließlich eröffnen zwei Beiträge (P.-U. Merz-Benz und R. Walthert), die einerseits die Säkularisierung als Folge der Reformation charakterisieren, sich andererseits mit dem Dauerthema der Protestantismusthese von M. Weber und E. Troeltsch befassen. Letztere hat zum Ende des 19. und dann erneut in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine breite, differenziert wertende Rezeption erfahren. Die hier vorgelegte Reflexion unter Berücksichtigung gerade auch der Thesen von E. Troeltsch ist anregend, hätte aber wie eingangs beschrieben, einen Bezug zu ihren Kontexten verdient. Ob die Säkularisierung dagegen wirklich Folge der Reformation war/ist, ist weiterhin heftig umstritten. Der Schlussbeitrag mit Blick auf Gottfried Keller und die Zürcher Reformation (U. Amrein) stellt einen interessanten Bezug zur Region her und ist in diesem Sinne gelungene Kontextualisierung.
Der Horizont des vorliegenden Bandes ist sehr weit. Das ist einerseits ein Gewinn, andererseits eine Schwäche des Ganzen. Denn die Verzahnungen zwischen den einzelnen Aspekten sind unter dem Thema "Kontextualisierung" nicht in allen Beiträgen gelungen.
Luise Schorn-Schütte